Der Hueter der Koenigin - Historischer Roman
sich so leise zurück, wie er gekommen war. Da bemerkte ihn der Diener. Der alte Mann erstarrte regelrecht, während ihm die Augen beinahe aus den Höhlen traten. Ein Zittern überlief ihn. Hatte er Wittiges erkannt? Hoffentlich schrie er nicht und wies mit dem Finger auf ihn.
Wittiges ruckte mit dem Kopf in Wandalenus’ Richtung und legte einen Finger an den Mund. Als durchströme ihn neue Kraft, richtete sich der Alte kerzengerade auf, nickte unmerklich und fuhr fort, Äpfel zu pflücken. Wittiges spähte zu Wandalenus und seinem Begleiter und atmete auf. Die beiden hatten nichts von diesem stummen Austausch mitbekommen.
Schon von Weitem sah Wittiges, dass Chramm Knechte als Wachen am Tor von Theodos Hof aufgestellt hatte. Odilo hatte er wieder in einem Versteck zurückgelassen und sich zu Fuß an das Anwesen herangepirscht. Aus seiner Deckung heraus sah er einen Jungen, der hinter einem kleinen, kläffenden Hund aus dem Tor herausgeschossen kam und um die Schutzhecke herumlief, die das Anwesen umzog. Unauffällig folgte er den beiden in einem weiten Bogen außer Sichtweite der Knechte, und da der Junge nur Augen für den Hund hatte, gelang es ihm, sich zu nähern und ihn zu packen.
„Wer ist auf Theodos Hof? Ist Chramm da?“
Der Junge stieß einen Schreckenslaut auf. Rasch legte ihm Wittiges die Hand auf den Mund, damit er nicht noch einmal aufschrie.
„Hör zu! Ich will wissen, ob Chramm zu Hause ist. Und seine Frau Viola, und ...“ Es war der Gedanke, der ihn hergeführt hatte. „... ist Pontus da?“ Offenbar gehörte der Junge zum Hofgesinde, und er meinte auch, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Der Kleine nickte. Wittiges wartete einen Augenblick und nahm die Hand herunter, war aber darauf gefasst, den Jungen eventuell wieder zum Schweigen bringen zu müssen.
„Wer noch?“
Der Junge starrte ihn unverwandt an.
„Kennst du mich?“
Wieder ein zögerndes Nicken.
„Wittiges?“, flüsterte das Kind.
„Ja, der bin ich. Schau mich genau an. Damit du dir sicher bist.“
„Sie sagen, du bist tot.“
„Wer?“
„Alle. Chramm, Pontus, Viola und ... und Aletha ist auch da.“
Wittiges nahm den Jungen an die Hand und ging mit ihm um die Hecke herum, während der Welpe um sie herumsprang.
Sobald sie sich dem Tor näherten, schrie das Kind: „Es ist Wittiges, ich hab ihn sofort erkannt.“
Einer der Knechte entdeckte ihn. Langsam, ungläubig, als müsse er sich einem Trugbild stellen, kam er ihm entgegen.
„Ich bin’s wirklich“, sagte Wittiges ruhig. „Und du gehst besser hinein und sagst Pontus Bescheid. Ich hole nur noch mein Pferd.“
2
Pontus stöhnte auf, fasste sich an den Kopf, wischte sich über die Augen und brachte lange Zeit keinen vollständigen Satz heraus. Obwohl er Wittiges umarmt, beklopft und befühlt hatte, legte er ihm immer wieder die Hand aufs Knie oder packte ihn am Arm, tat einfach alles, um sich von seiner Auferstehung von den Toten zu überzeugen und das Unwahrscheinliche zu glauben.
Noch nie hatte Wittiges Pontus so konfus, so aufgelöst erlebt.
„Soll ich gehen und noch einmal hereinkommen? Macht’s das für dich leichter?“, fragte er schließlich ironisch.
Aletha lächelte nur still. Sie lag im oberen Stock in einer kleinen Kammer auf einer Ruheliege, bedeckt mit einer leichten Sommerdecke. Wittiges erschrak angesichts ihrer eingefallenen Wangen, der Blässe, der müden, eingesunkenen Augen, der Linien, die ihr die Schmerzen ins Gesicht gegraben hatten. Nur langsam entdeckte er das vertraute alte Bild in all den verheerenden Veränderungen.
„Ich hab gewusst, dass du nicht tot bist, aber niemand hat mir geglaubt“, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. Dafür war er ihr dankbar.
„Ich war nahe daran, draufzugehen“, bekannte er ehrlich, „und größtenteils durch meine eigene Besessenheit. Ich wollte meine Rache. Aber es ist seltsam, jetzt, da ich sie erhalten habe, bedeutet sie mir nichts mehr. Ich war ein Narr.“
Sie hatten sich um Alethas Liege geschart: Pontus, Wittiges, Chramm, Viola und Ulf. Viola trug einen gewaltigen Bauch vor sich her und schaukelte bei jedem Schritt wie ein Schiff am Ankertau. Von ihrer früheren Geschmeidigkeit war allenfalls eine Ahnung geblieben, wenn sie mit verschmitztem Lächeln und einer Drehung der unsichtbaren Hüften auf einem Stuhl Platz nahm, der bedenklich unter ihr knarrte. Auch sie hatte ihn umarmt, das ungeborene Kind zwischen ihnen. Er spürte es in der gewölbten Masse, die sie und ihn
Weitere Kostenlose Bücher