Der Hüter des Schwertes
Die Balance der Waffe war außergewöhnlich. Sein Auge sagte ihm, dass er ein großes Schwert hielt, aber seine Hand verspürte nicht mehr als das Gewicht eines kleinen Messers. Er starrte es wie gebannt an. Conals Geplapper brach diesen Bann schließlich.
»Du hast das Schwert gezogen?«, keuchte er verblüfft. »Du hast das Schwert gezogen!«, rief er schockiert. »Du hast das Schwert gezogen.«
»Was willst du? Natürlich habe ich das verdammte Schwert gezogen«, erwiderte Martil barsch.
»Verstehst du es nicht?«, keuchte Conal. »Weißt du nicht, was du getan hast?«
»Ist ja gut, ich stecke es wieder weg«, sagte er achselzuckend.
»Du kannst es nicht wieder wegstecken! Du führst das Schwert jetzt. Ganz Norstalos hat darauf gewartet, dass es jemandem gelingt, und jetzt bist du dieser Jemand!«
Etwas von dem puren Entsetzen in Conals Stimme drang zu Martil durch.
»Wie meinst du das?«
»Hast du nie die Sagen und Legenden über dieses Schwert gehört? Was bist du, irgendein rallorischer Ziegenficker?«
Martil richtete das Schwert auf ihn. »Ja, nur nicht mit Ziegen. Aber es wäre klug von dir, mich nicht zu beleidigen, solange ich ein Schwert in der Hand habe.« Dann gab er ein bisschen nach und erinnerte sich an den kleinen Kaufmann Berne. »Nein, ich kenne die Legenden von diesem Schwert nicht. Wie ich allen Norstalern fortwährend zu erklären versuche, habe ich mein Leben damit verbracht, in den rallorischen Kriegen zu kämpfen, und versucht, dabei am Leben zu bleiben. Merkwürdigerweise haben wir uns nie hingesetzt und norstalische Legenden und Mythen ausgetauscht. Also warum sagst du mir nicht, was los ist, statt so idiotisch herumzustammeln?«
»Die Klinge lässt sich nicht von jedem ziehen. Wenn das Schwert dich für unwürdig hält, dann kannst du noch so stark sein, du wirst es nicht aus der Scheide ziehen können. Aber wenn es dich für würdig befindet, wirst du das Schwert führen müssen, mit allem, was das mit sich bringt. Solltest du dem Zweck des Schwertes allerdings nicht gerecht werden, steht dir ein qualvoller Tod bevor.«
»Du sprichst, als wäre das Schwert lebendig. Es ist ein Schwert«, knurrte Martil.
»Ein Schwert, das von den Drachen im Verborgenen und mit großer Magie geschmiedet wurde. Es lässt sich für nichts Böses einsetzen. Wenn ein guter Mann es zieht und böse wird, wird die Magie des Schwertes ihn zerstören.«
»Was erachtet es denn als böse? Es ist ein Schwert. Schwerter machen, was man sie machen lässt. Woher weiß es denn, ob ein Mensch, den man damit töten will, gut oder schlecht ist?«, wandte Martil ein.
Conal lächelte. »Das sind die Fragen, mit denen sich berühmte Denker und Magier jahrhundertelang beschäftigt haben. Ich kann dir nur sagen, was ich weiß und was in Norstalos jedem Kind beigebracht wird. Das Schwert weiß es, weil es dafür gemacht wurde. Es weiß, was in deinem Herzen vorgeht, und kann es spüren. Wenn man das Schwert zieht, ist man für den Rest seines Lebens mit ihm verbunden. Und du wirst ein langes Leben haben, wenn du ein guter Mann bist. Bist du ein schlechter Mann, wird dein Leben nur von kurzer Dauer sein und sehr unangenehm werden. Im Kampf macht es dich unbesiegbar, aber die wahre Macht des Schwertes liegt darin, dass es andere gute Männer dazu bringt, sich dir anzuschließen.«
Für Martils Geschmack klang das zu sehr nach einer Sage. Die Helden der Sagen waren immer siegreich, mochten ihre Aussichten auch noch so schlecht gewesen sein. Er dagegen hatte während seiner vielen Jahre im Krieg gelernt, dass es niemals eine Garantie für den Sieg dessen gab, was man für gut hielt. Er hatte zu viele inspirierende Ansprachen gehört, um ihnen noch Glauben zu schenken. Das alles waren zu viele Informationen auf einmal, also tat er, was er immer tat, wenn ihm eine Angelegenheit zu grimmig wurde. Er versuchte, das Ganze mit Humor zu sehen.
»Also habe ich dich inspiriert, mir zu folgen?«, fragte er Conal.
»Nein«, gab der alte Räuber zu. »Die Verantwortung liegt nun in deinen Händen. Ich würde mich gern davonmachen.« Er überlegte einen Augenblick. »Aber der Wahrheit halber muss gesagt werden, dass ich auch kein guter Mann bin.«
Ein guter Mann. Martil dachte plötzlich an die toten Kinder aus Bellic. Die auf seinen Befehl hin getötet worden waren. Wie konnte er als guter Mann angesehen werden? Er drehte sich zu Karia um. Sie stand unter seiner Obhut, weil er ihre Familie getötet hatte. Noch eine böse Tat.
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