Der Hund des Todes
hält mich aufrecht. Es ist nicht leicht, dies zu verstehen – und ich nehme nicht an, dass du an Visionen glaubst. Dies ist aber meine Art von Glück.«
»Nein, daran glaube ich nicht«, sagte Silas Hamer überzeugt. »Ich glaube nur an das, was ich sehen und hören und berühren kann.«
»Ganz recht. Darin besteht der Unterschied zwischen uns. Nun denn, auf Wiedersehen, jetzt verschlingt mich die Erde.«
Sie hatten den Eingang zu der erleuchteten U-Bahn-Station, von der aus Borrow nachhause fuhr, erreicht. Hamer ging allein weiter. Er war froh über seinen Entschluss, den Wagen heute Abend fortgeschickt zu haben; so konnte er zu Fuß nachhause gehen. Die Luft war scharf und frostig, seine Sinne nahmen voller Wohlbehagen die umhüllende Wärme seines pelzgefütterten Mantels wahr.
Er blieb einen Augenblick auf dem Bürgersteig stehen, bevor er die Straße überquerte. Ein mächtiger Autobus bahnte sich den Weg auf ihn zu. Hamer empfand das Gefühl unendlicher Muße und wartete, dass er vorbeifuhr. Wenn er noch vor ihm hinübergehen wollte, müsste er sich beeilen – und Eile war ihm verhasst. Eine volltrunkene menschliche Gestalt schwankte an ihm vorbei auf die Fahrbahn. Hamer sah noch, wie der Autobus vergeblich auswich, dann hörte er einen grässlichen Schrei, und sein Blick blieb fassungslos – sein Entsetzen wuchs progressiv – auf einem formlosen, schlaffen Lumpenhaufen mitten auf der Straße haften.
Eine Menschenmenge sammelte sich wie von einem Magneten angezogen. Ein Polizist und der Fahrer des Busses bildeten den Mittelpunkt des Gedränges. Aber Hamers Blicke zog die Suggestivkraft des Grauens auf das leblose Bündel, das einmal ein Mensch gewesen war – ein Mensch wie er selbst. Hamer schauderte, als sei er selbst bedroht.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Mann«, bemerkte ein primitiv aussehender Mann an seiner Seite. »Sie hätten es doch nicht verhindern können. Der war eben fällig.«
Hamer starrte den Mann an. Der Gedanke, dass es vielleicht im Bereich seiner Möglichkeit gelegen hatte, den Mann zurückzureißen, war ihm – wenn er ehrlich war – noch gar nicht gekommen. Verächtlich wies er diese absurde Mutmaßung von sich. Wenn er selbst so töricht gewesen wäre, würde er jetzt… Hamers Gedanken brachen abrupt ab, und er ging von der Menge fort. Er fühlte, wie er innerlich fror, zitterte vor einer namenlosen, unauslöschlichen Angst. Er war gezwungen, sich selbst zuzugeben, dass er auf einmal Angst, entsetzliche Angst vor dem Tod hatte – vor jenem Tod, der mit grässlicher Schnelligkeit und gewissenloser Gewissheit zu Armen und Reichen gleichermaßen kam…
Hamer ging schneller, doch die neue Angst blieb in ihm, sie hatte ihn in ihrem kalten und schaurigen Griff.
Er wunderte sich über sich selbst, denn er wusste, dass er von Natur aus kein Feigling war. Vor fünf Jahren, überlegte er, hätte ihn diese Angst noch nicht anfallen können. Damals war das Leben noch nicht so süß gewesen… Ja, das war es! Die Liebe zum Leben war der Schlüssel des Geheimnisses. Der Lebensgenuss hatte für ihn seinen Höhepunkt erreicht; er sah nur eine Bedrohung: den Tod, den Zerstörer!
Hamer bog aus der Hauptverkehrsstraße in eine schmale Seitengasse ab, die von hohen Mauern eingefasst war. Sie bot eine Abkürzung zu dem Platz, an dem sein Haus lag, das für seine Kunstschätze bekannt war.
Die Geräusche der Straßen wurden hinter Hamer immer schwächer und erstarben ganz; nur das weiche Auftreten seiner Schuhe war noch zu hören. Und dann kam aus dem Dunkel vor ihm ein anderer Ton.
Ein Mann saß gegen die Mauer gelehnt und spielte Flöte. Sicherlich einer der vielen Straßenmusikanten; warum hatte er sich diesen einsamen Ort ausgesucht? Wahrscheinlich fürchtete er zu dieser Nachtzeit die Polizei… Hamers Überlegungen wurden unterbrochen, als er mit Schrecken bemerkte, dass der Mann keine Beine mehr hatte. Ein Paar Krücken lehnten an der Mauer neben ihm. Hamer sah jetzt auch, dass es keine Flöte war, die er blies, sondern ein fremdartiges Instrument, dessen Töne höher und klarer waren als die einer Flöte.
Der Mann spielte weiter. Er bemerkte Hamers Herannahen nicht. Der Musikant hatte den Kopf weit zurückgeworfen, das Gesicht war dem Himmel zugewandt, als ob er sich an seiner eigenen Musik erfreute; die Töne entflogen seinem Instrument klar und fröhlich, stiegen höher und höher…
Es war eine eigenartige Melodie – besser ein Gespräch, es war überhaupt keine Melodie,
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