Der Hund des Todes
soweit, aber sie kann täglich etwas herausfinden. Aber bis es soweit ist, bin ich der Ansicht, man sollte sich nicht aus Voreingenommenheit dem verschließen.«
»Was raten Sie mir?«, fragte Hamer nach einer Pause des Schweigens.
Seldon beugte sich lebhaft vor. »Eine von mehreren Möglichkeiten: Verlassen Sie London, suchen Sie Ihr offenes Land auf. Vielleicht hören die Träume dort auf.«
»Das kann ich nicht«, sagte Hamer schnell. »Es ist so weit gekommen, dass ich ohne sie nicht mehr leben kann. Ich will ohne sie nicht mehr leben!«
»Aha. Ich hatte so etwas schon geahnt. Eine andere Möglichkeit: Finden Sie diesen Burschen, diesen Krüppel. Sie haben ihm bis jetzt alle möglichen übernatürlichen Attribute zugesprochen. Reden Sie mit ihm. Brechen Sie den Zauber!«
Wieder schüttelte Hamer den Kopf.
»Warum denn nicht?«
»Ich habe Angst«, sagte Hamer einfach.
Seldon machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Glauben Sie nicht blind daran. Diese Melodie, das Lied, womit all das anfängt, wie ist sie?«
Hamer summte sie vor sich hin, und Seldon hörte mit verwundertem Stirnrunzeln zu.
»Fast wie aus der Ouvertüre von ›Rienzi‹. Darin ist etwas Emporsteigendes – es hat wirklich Flügel. Aber ich werde dabei nicht von der Erde hochgehoben. Übrigens – diese Flüge, die Sie erleben – sind sie immer gleich?«
»Nein, nein«, Hamer beugte sich eifrig vor. »Sie entwickeln sich. Jedes Mal sehe ich etwas mehr. Es ist schwierig, das zu erklären. Sehen Sie, ich bin mir immer bewusst, einen gewissen Punkt zu erreichen – die Musik trägt mich dahin, nicht direkt, aber durch eine Folge von Wellen, von denen eine immer höher ist als die vorhergehende, bis zum höchsten Punkt, über den hinaus es nicht mehr weitergeht. Da bleibe ich, bis ich heruntergezogen werde. Es ist nicht eigentlich ein Ort, eher ein Zustand… Nicht sofort, erst etwas später verstand ich, dass es da um mich herum noch andere Dinge gab, die nur darauf warteten, von mir aufgenommen zu werden, wenn ich erst dazu fähig war. Denken Sie an eine junge Katze. Sie hat Augen, kann aber zuerst nichts sehen. Sie ist blind und muss erst lernen, zu sehen. Genauso war es auch bei mir. Die Augen und Ohren der Sterblichen waren für mich nicht die richtigen, doch es gab etwas Entsprechendes dafür, das noch nicht entwickelt war – etwas, das überhaupt nicht körperlich ist. Ganz langsam, Schritt für Schritt, wuchs es… Da gab es Gefühle des Lichts… von Klängen… dann von Farbe… alles vage und nicht formulierbar. Es war mehr das Wissen um die Dinge als ihre Wahrnehmung durch Sehen oder Hören. Zuerst war es Licht, das stärker und klarer wurde – später Sand, große Strecken von rötlichem Sand… und hier und da gerade lange Linien von Wasser wie Kanäle…«
Seldon holte tief Atem. »Kanäle? Das ist interessant. Erzählen Sie weiter.«
»Alle diese Dinge waren unwichtig – sie zählten nicht lange. Die wirklichen Dinge waren jene, die ich nicht sehen, aber hören konnte… Es war ein Geräusch wie das Rauschen von Flügeln – irgendwie war es prachtvoll! Hier gibt es nichts Ähnliches. Dann kam eine andere Pracht – ich sah sie: die Flügel! O Seldon, diese Flügel!«
»Was sind das für Flügel? Menschen-, Engels- oder Vogelflügel?«
»Ich weiß es nicht. Das konnte ich noch nicht sehen – nur die Farbe von ihnen: Flügelfarbe. Hier gibt es so etwas nicht. Es ist eine wundervolle Farbe.«
»Flügelfarbe?« wiederholte Seldon. »Wie sieht sie aus?«
Hamer spreizte ungeduldig die Hände. »Wie soll ich sie Ihnen erklären? Erklären Sie die Farbe Blau einmal einem Blinden. Es ist eine Farbe, die Sie noch nie gesehen haben – Flügelfarbe!«
»Aha.«
»Das ist alles. Bis dahin bin ich jetzt gekommen. Und jedes Mal wurde das Zurückkommen schlimmer – schmerzlicher: Ich kann es nicht verstehen. Ich bin überzeugt davon, dass mein Körper das Bett niemals verlässt. An dem Punkt, den ich erreiche, bin ich überzeugt, gar keine körperliche Gegenwart mehr zu haben. Warum tut es dann aber so verflucht weh?«
Seldon schüttelte schweigend den Kopf.
»Es ist etwas Entsetzliches – dieses Zurückkommen. Der Zug nach unten – dann der Schmerz in jedem Glied und jedem Nerv; meine Ohren fühlen sich an, als wollten sie platzen. Dann drückt das Gewicht von allem sowie das grauenhafte Gefühl, eingekerkert zu sein. Ich brauche Licht, Luft, Raum – vor allem Raum, um atmen zu können. Und ich will Freiheit!«
»Was ist
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