Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
Stacheldraht in einer Stadt lebte, die so gut behütet war, dass sie nicht mal so heißen durfte, wie sie hieß, und nicht mal dort liegen durfte, wo sie lag.
Der geheime Hutton bedauerte seinen Irrtum, fügte aber hinzu, dass Herr Karlsson schon was einfallen würde. Popow kam sicher ab und zu nach Moskau, Allan musste also nur herausfinden, wann der Wissenschaftler sich mal wieder in der Hauptstadt aufhielt.
»Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Herr Karlsson«, sagte der geheime Hutton, der aus der französischen Hauptstadt angerufen hatte. »Ich habe nämlich noch ein paar andere Angelegenheiten auf meinem Schreibtisch, um die ich mich kümmern muss. Viel Glück!«
Dann legte er auf, seufzte tief und wandte sich wieder den Nachwirkungen des im Jahr zuvor von der CIA unterstützten Militärputsches in Griechenland zu. Wie so viele andere Unternehmen der letzten Zeit war auch dieses nicht ganz so ausgegangen wie geplant.
Allan fiel vorerst nichts Besseres ein, als jeden Tag einen erfrischenden Spaziergang zur Stadtbibliothek in Moskau zu machen, wo er stundenlang saß und Zeitungen und Zeitschriften las. Er hoffte, dabei auf einen Artikel zu stoßen, in dem angekündigt wurde, dass Popow demnächst öffentlich auftreten würde, und zwar außerhalb des Stacheldrahts, der sich rund um Arzamas-16 ringelte.
Doch Monat um Monat verging, und er fand nichts. Dafür konnte er unter anderem lesen, dass Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy demselben Schicksal zum Opfer gefallen war wie sein Bruder und dass die Tschechoslowakei die Sowjetunion um Hilfe gebeten hatte, damit sie endlich mal die richtige Ordnung in ihren Sozialismus kriegten.
Des Weiteren bekam Allan eines Tages mit, dass Lyndon B. Johnson einen Nachfolger namens Richard M. Nixon hatte. Doch da die Aufwandsentschädigung der Botschaft weiterhin jeden Monat in Form eines Kuverts bei ihm eintraf, hielt Allan es für das Klügste, weiterhin nach Popow zu suchen. Wenn sich an seinem Auftrag etwas ändern sollte, würde sich der geheime Hutton schon bei ihm melden.
Inzwischen schrieb man das Jahr 1969, und es wurde langsam Frühjahr, als Allan bei seinem unablässigen Blättern in den Zeitungen der Bibliothek etwas Interessantes entdeckte. Die Wiener Oper sollte ein Gastspiel im Bolschoi-Theater in Moskau geben, mit Franco Corelli als Tenor und dem schwedischen Weltstar Birgit Nilsson in der Hauptrolle der Oper Turandot .
Allan kratzte sich das inzwischen wieder bartlose Kinn und erinnerte sich an den ersten – und einzigen – Abend, den er mit Julij verbracht hatte. Da hatte Julij zu vorgerückter Stunde eine Arie angestimmt: Nessun dorma hatte er gesungen – keiner schlafe! Dass er kurz darauf alkoholbedingt eingeschlummert war, stand auf einem anderen Blatt.
Allan dachte sich, dass jemand, der in einem U-Boot in ein paar hundert Metern Tiefe Puccini und Turandot huldigte, sich wohl kaum ein Gastspiel der Wiener Oper im Bolschoi-Theater entgehen lassen würde, bei dem ebendiese Oper aufgeführt wurde. Vor allem, wenn der Betreffende nur wenige Stunden entfernt wohnte und eine so hochdekorierte Persönlichkeit war, dass er bestimmt keine Probleme haben würde, einen guten Platz zu bekommen.
Oder vielleicht doch? Na, dann musste Allan eben einfach seine täglichen Wanderungen zur Stadtbibliothek fortsetzen. Es gab Schlimmeres.
Bis auf Weiteres rechnete Allan aber damit, dass Julij vor der Oper auftauchen würde, und dann musste er ihn ja nur abfangen und sich noch mal für den netten Abend neulich bedanken. Damit war die Sache klar.
Oder auch nicht.
Überhaupt nicht, wie sich herausstellen sollte.
* * * *
Am Abend des 22. März 1969 postierte sich Allan an einer strategisch günstigen Stelle links vor dem Haupteingang des Bolschoi-Theaters. Von hier aus würde er Julij sofort wiedererkennen, wenn er hineinging. Das Problem war dann aber, dass fast alle Besucher gleich aussahen. Alles Männer im schwarzen Anzug unter schwarzem Mantel beziehungsweise Frauen in Abendkleidern, die unter einem schwarzen oder braunen Pelz hervorsahen. Sie kamen sämtlich paarweise und eilten aus der Kälte ins warme Theater, vorbei an Allan, der auf der obersten Stufe der eindrucksvollen Treppe stand. Obendrein war es dunkel, wie sollte Allan also ein Gesicht identifizieren, das er vor einundzwanzig Jahren zwei Tage lang gesehen hatte? Es sei denn, er hätte das unbeschreibliche Glück, dass Julij ihn wiedererkannte.
Nein, so ein Glück hatte Allan nicht.
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