Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
sterben musste, nämlich ganz überraschend im Dezember des letzten Jahres im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Er hinterließ eine erfolgreiche Ehefrau – eine Diplomatin in Paris – und zwei halbwüchsige Kinder. Nach letzten Berichten aus der französischen Hauptstadt hatte die Familie Herberts Ableben gut verkraftet, und Frau Einstein war in einflussreichen Kreisen sehr beliebt. Ihr Französisch war zwar immer noch schrecklich schlecht, aber das machte auch einen Teil ihres Charmes aus, denn so schien es, als würde sie manchmal Dummheiten von sich geben, die unmöglich so gemeint sein konnten.
»Aber ich fürchte, wir sind inzwischen ganz vom Thema abgekommen«, sagte Allan. »Du hast vergessen, meine Frage zu beantworten. Willst du zur Abwechslung nicht mal Spion werden?«
»Allan Emmanuel, ich bitte dich! Das ist doch unmöglich. Ich bin für meine Dienste am Vaterland mehr ausgezeichnet worden als jeder andere Zivilist der modernen sowjetischen Geschichte. Es ist vollkommen ausgeschlossen , dass ich Spion werde!«, erwiderte Julij und hob das sechste Glas Wodka an die Lippen.
»Sag das nicht, lieber Julij«, widersprach Larissa, woraufhin den sechsten Wodka dasselbe Schicksal ereilte wie den fünften.
»Wäre es nicht besser, wenn du deinen Schnaps trinken würdest, statt ihn ständig über andere Leute zu versprühen?«, fragte Allan liebenswürdig.
Daraufhin legte Larissa Popowa ihre Gedanken dar, während ihr Mann sich wieder die Hände vors Gesicht hielt. Sie meinte, dass Julij und sie demnächst fünfundsechzig werden würden, und was hätten sie der Sowjetunion eigentlich zu verdanken? Freilich, ihr Mann sei doppelt und dreifach ausgezeichnet worden, schön und gut, und das bedeute ja auch mal gute Karten für die Oper. Aber ansonsten?
Sie wartete die Antwort ihres Mannes gar nicht erst ab, sondern fuhr fort, dass sie in Arzamas-16 eingesperrt waren, einer Stadt, deren Name allein schon Depressionen auslösen konnte. Und dann auch noch hinter Stacheldraht. Ja, ja, sie wisse wohl, dass sie kommen und gehen konnten, wie sie wollten, aber Julij solle sie jetzt gefälligst nicht unterbrechen, denn sie sei noch lange nicht fertig.
Für wen rackere Julij sich denn ununterbrochen ab? Erst für Stalin, der nicht ganz richtig im Kopf war. Dann für Chruschtschow, der nur einmal ein Zeichen von menschlicher Wärme gezeigt hatte, als er nämlich Marschall Berija hinrichten ließ. Und jetzt war es Breschnew – und der stank einfach!
»Aber Larissa!«, rief Julij Borissowitsch erschrocken aus.
»Hör mir auf mit deinem ›Larissa‹, lieber Julij. Du hast selbst gesagt, dass Breschnew stinkt.«
Und so fuhr sie fort, dass Allan Emmanuel geradezu wie bestellt aufgetaucht war, denn in letzter Zeit war sie immer niedergeschlagener gewesen bei dem Gedanken, dass sie auch noch hinter diesem Stacheldrahtzaun sterben sollte, in einer Stadt, die es offiziell gar nicht gab. Würden sie überhaupt richtige Grabsteine bekommen? Oder sollten die zur Sicherheit vielleicht auch noch verschlüsselt beschriftet werden?
»Hier ruhen Genosse X und seine treue Gattin Y«, sagte Larissa.
Julij antwortete nicht. Seine liebe Frau mochte in gewisser Hinsicht ansatzweise recht haben. Inzwischen war sie beim Finale angelangt:
»Warum willst du denn nicht noch ein paar Jahre mit deinem Freund spionieren? Danach können wir mit seiner Hilfe nach New York fliehen und dort jeden Abend in die Met gehen. Dann könnten wir tatsächlich noch mal leben, lieber Julij, bevor wir sterben müssen.«
Während es ganz so aussah, als würde Julij resignieren, fuhr Allan fort, die Hintergründe etwas genauer zu erläutern. Er habe wie gesagt über Umwege diesen Herrn Hutton in Paris kennengelernt, einen Mann, der dem ehemaligen Präsidenten Johnson offenbar nahegestanden habe und zudem eine hohe Stellung in der CIA innehatte.
Als Hutton gehört hatte, dass Julij Borissowitsch einmal mit Allan bekannt gewesen war und ihm außerdem vielleicht einen Gefallen schuldete, hatte Hutton einen Plan ausgearbeitet.
Bei den globalen politischen Aspekten dieses Plans hatte Allan nicht so genau hingehört, denn wenn die Leute von Politik anfingen, klappte er gern mal die Ohren zu. Reflexartig, sozusagen.
Der sowjetische Kernphysiker, der sich inzwischen wieder etwas gefasst hatte, nickte verständnisvoll. Politik war auch nicht unbedingt sein Lieblingsthema. Er war zwar mit Leib und Seele Sozialist, aber wenn jemand ihn bat, seinen Standpunkt
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