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Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

Titel: Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Jonasson
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Spanien.
    Allan und Estebán verstanden sich auf Anhieb. Außerdem wohnten sie zusammen in einem schäbigen Loch in der Arbeitersiedlung neben der Fabrik. Der Spanier erzählte seine dramatische Vorgeschichte. Er hatte auf einem Fest in Madrid ein Mädchen kennengelernt und heimlich ein – wenn auch recht unschuldiges – Verhältnis mit ihr angefangen, ohne zu wissen, dass sie die Tochter des Premierministers Miguel Primo de Rivera war. Der freilich war nicht die Person, mit der man sich ungestraft anlegte. Er regierte das Land ganz nach eigenem Gutdünken, mit dem hilflosen König am Gängelband. »Premierminister«, das war schon bald ein beschönigender Ausdruck für »Diktator«, meinte Estebán. Aber seine Tochter war so unglaublich schön!
    Estebáns Herkunft aus der Arbeiterklasse wollte dem potenziellen Schwiegervater überhaupt nicht gefallen. Bei seinem ersten und einzigen Treffen mit Primo de Rivera erfuhr Estebán, dass er zwei Optionen hatte: Entweder das Land verlassen, und zwar so weit weg wie nur irgend möglich, oder sich auf der Stelle einen Genickschuss verpassen lassen.
    Während Primo de Rivera sein Gewehr entsicherte, antwortete Estebán, dass er sich bereits für die erste Option entschieden habe, und zog sich hastig rückwärts zurück, sorgfältig darauf achtend, dem Mann nicht das Genick zuzuwenden und auch keinen Blick mehr auf das schluchzende Mädchen zu werfen.
    So weit weg wie irgend möglich, dachte Estebán und machte sich auf den Weg in den Norden, und dann noch weiter in den Norden, bis er zum Schluss so weit im Norden war, dass die Seen dort im Winter zu Eis gefroren. Da glaubte er endlich, weit genug weg zu sein. Und hier war er seitdem geblieben. Die Stelle in der Gießerei hatte er vor drei Jahren mit Hilfe eines dolmetschenden katholischen Priesters bekommen und der – Gott mochte es ihm verzeihen – wild zusammengelogenen Geschichte, in Spanien hätte er mit Sprengstoffen gearbeitet, wo er in Wirklichkeit doch nur Tomaten gepflückt hatte.
    Mit der Zeit hatte Estebán nicht nur Schwedisch gelernt, sondern war auch ein recht fähiger Sprengstofftechniker geworden. Und jetzt, da er Allan an seiner Seite hatte, entwickelte er sich nachgerade zu einem wahren Fachmann.
    * * * *
    Allan lebte sich in der Arbeitersiedlung prächtig ein. Nach einem Jahr hatte Estebán ihm so viel beigebracht, dass er sich auch auf Spanisch verständigen konnte. Nach zwei Jahren sprach er es fast schon fließend. Doch es dauerte drei Jahre, bis Estebán den Versuch aufgab, ihm seine spanische Variante des internationalen Sozialismus aufzudrängen. Er ließ nichts unversucht, aber Allan zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. Dieser Teil der Persönlichkeit seines besten Freundes blieb Estebán ein Rätsel. Allan vertrat ja keine entgegengesetzte Auffassung von den Dingen oder hing anderen Ideen an, er hatte ganz einfach überhaupt keine Auffassung. Oder vielleicht war ja gerade das Allans Auffassung? Estebán blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass er seinen Freund nicht verstand.
    Allan seinerseits sah sich einem ganz ähnlichen Problem gegenüber. Estebán war ein guter Kamerad. Dass ihn die vermaledeite Politik vergiftet hatte, konnte man nicht mehr ändern – da war er ja auch weiß Gott nicht der Einzige.
    Die Jahreszeiten wechselten einander noch ein paarmal ab, bis Allans Leben eines Tages eine neue Wendung nahm. Es begann damit, dass Estebán die Nachricht erreichte, Primo de Rivera sei zurückgetreten und außer Landes geflohen. Jetzt kehrte also wirklich Demokratie ein, vielleicht sogar Sozialismus, und das wollte Estebán sich nicht entgehen lassen.
    Daher wollte er so schnell wie möglich in die Heimat zurückkehren. Die Gießerei lief sowieso immer schlechter, da Señor Per Albin beschlossen hatte, dass es keinen Krieg mehr geben würde. Estebán meinte, dass den beiden Sprengstofftechnikern jederzeit gekündigt werden könne. Er erkundigte sich, was sein Freund Allan denn für Pläne habe. Ob er sich vielleicht vorstellen könnte, mit ihm zu kommen?
    Allan überlegte. Einerseits interessierte er sich nicht für Revolutionen, ganz gleich, ob spanische oder sonst welche. So etwas konnte zwangsläufig immer nur zu einer neuen Revolution führen, die in die entgegengesetzte Richtung ausschlug. Andererseits lag Spanien ja im Ausland, so wie alle Länder, abgesehen von Schweden. Und nachdem er sein Leben lang immer nur vom Ausland gelesen hatte, war es vielleicht gar

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