Der Hypnosearzt
selben Platz. Sie war geöffnet, obwohl es schon wieder leicht zu regnen begann. Hinter der verglasten Front lümmelten sich ein paar Gestalten an der Theke. Draußen, hinter den grauen Wasserschleiern auf dem Platz, rannten andere schattenhafte Figuren hinter einem Ball her und produzierten einen fürchterlichen Lärm: irgendeine B- oder Jugendmannschaft. Auch wenn's Katzen hagelt, harte Typen geben nie auf …
Stefan stützte die Ellbogen auf das Brett der Durchreiche, machte es sich unter der Regentraufe gemütlich und bestellte bei der mageren sommersprossigen Sechzehnjährigen, die im Hintergrund an einem Minifernseher lehnte, Currywurst und ein Pils.
Dann dachte er nach.
Wenn wir Glück haben, hatte er der Gemeindeschwester gesagt … Lässig und cool, Dr. Stefan Bergmann, der unerschrockene, altbekannte Schmerzbekämpfer aus Burgach in Nordhessen.
Eines stand fest: Was Dr. Stefan Bergmann tun konnte, hatte er getan. Die Umstände waren schwierig und doch gleichzeitig günstiger, als er gehofft hatte: Mehr als zwanzig Minuten hatte er in Tiefentrance Verbindung mit Rosi gehabt und arbeiten können. Die Suggestion, daß sie sich nach dem Erwachen schmerzfrei und erfrischt fühlte, würde mit Sicherheit Erfolg haben. Doch was half das schon auf Dauer? Wichtig allein blieb, die posthypnotischen Befehle so in Rosi zu verankern, daß sie später in jeder Situation ihre Macht ausübten. Wenn alles gutging, konnte sich so während Stefans Abwesenheit der Hypnose-Effekt der Schmerzfreiheit nicht nur erneuern, sondern sogar verstärken.
Punkt um Punkt ging er die Vorstellungen, die er in Rosi versenkt hatte, noch einmal durch und rief sich die Situationen ins Gedächtnis, mit denen er sie verbunden hatte:
Das Fenster zum Garten.
Der Wecker.
Der Brunnen.
Die Operation.
»Wenn du die Augen aufmachst, Rosi, und zum Fenster hinaussiehst auf den Pflaumenbaum, dann wird es sein wie jetzt, jedes Mal wie jetzt! Die Schmerzen werden sich auflösen wie Rauch, und wenn du die Stellen betastest, wo sie sich sonst melden, dann wirst du nichts fühlen, gar nichts. Alles bleibt gefühllos und taub. Genauso wird es sein, wenn du in der Küche den Wecker hörst …«
Dann kam die Geschichte mit dem Brunnen.
Dabei hatte Stefan sich besondere Mühe gegeben.
Vorstellungen lösen Gefühle aus, doch es war wie mit Bildern: Sie mußten dem Aufnahmevermögen eines Menschen entsprechen, um sich zu entfalten und einzuprägen. Vor allem mußten sie die innersten Gefühle anrühren. Nicht zu laut durften sie sein, nie unangenehm. Um sie richtig zu beurteilen, mußte man den Menschen kennen. So hatte Stefan bei Rosi noch einmal die Situation heraufbeschworen, die sie während der Operation im Knappschaftskrankenhaus als so angenehm erlebt hatte. Doch er wählte einen vertrauten Weg:
»Es wird schön sein, Rosi, richtig schön. Siehst du, ganz tief im Brunnen, in unserem Brunnen, ganz tief auf dem Grund, dort, wo er weiter und breiter wird, befindet sich ein Raum. Und dort hörst du nichts als eine leise, angenehme, ganz wunderschöne Musik … Und Schürner ist dort … Er lächelt über sein Tuch hinweg. Siehst du, wie er dich anlächelt? Du trägst jetzt selbst so ein Tuch, ein schönes grünes Seidentuch, ganz angenehm leicht, so leicht wie eine Blüte … Es ist das Tuch, das du schon kennst, das Seidentuch, das du einmal von Christa geschenkt bekommen hast … Erinnerst du dich? Siehst du es?«
»Ja.« Sie hatte genickt und gelächelt.
»Sieh doch, wie angenehm … Nun legt es sich über deine Nase wie die Maske im Krankenhaus – hier über deine Nase … Doch es riecht so schön, riecht nach Rosen und leicht nach dem anderen Duft, den du schon kennst, dem Duft in der Maske, der dir die Schmerzen genommen hat … Und es wird wieder so sein, jedesmal. Der grüne Schal ist dein Zaubertuch, Rosi. Er wird immer neben deinem Bett liegen. Wenn du ihn nimmst, ist es wie damals, du hast keine Schmerzen mehr. Nichts mehr ist da, nichts gibt es mehr als Schürners Augen, das Tuch und diese leise wunderschöne Musik …«
Diesmal gab es keine Politesse, die den Bleistift zückte. Dafür hatte der Regen zugenommen. Kaum hatte Stefan die Tür seines Wagens geöffnet, bekam er einen Schwall Regenwasser ins Gesicht. Er stieß das Gartentor auf und rannte zur Tür. Sie war schon offen. Im Rahmen stand die Gemeindeschwester.
»Ich hab Sie kommen sehen, Herr Doktor.«
»So«, keuchte er und wischte sich mit dem Handrücken Wasser und nasse
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