Der Hypnosearzt
los. Die Autobahnraststätte befand sich vierzehn Kilometer nördlich von Siegburg. Wenn er die Strecke über Wetzlar nahm, hatte er noch etwa hundert Kilometer vor sich. Er würde nicht schnell fahren, er hatte nicht die geringste Absicht. Er würde also kurz vor acht in Burgach eintreffen. Die arme Christa … Hoffentlich hatte sie bis dahin den Praxisbetrieb durchgestanden …
Die Dämmerung kam kurz nach sieben Uhr. Stefan verließ die Autobahn und fuhr in Richtung Ortenberg. Als er die Bundesstraße 275 erreichte, mußte er die Scheinwerfer einschalten; es lag nicht allein an der Dunkelheit. In den Niederungen hielt sich Dunst, verdichtete sich zu Nebel, verschwand dann, aber immer wieder stiegen einzelne weiße Nebelnester vor ihm auf, flüchtig und unvorhersehbar. Wie Geister schienen sie, verhüllten die Straße, um sich irgendwann aufzulösen.
Stefan fuhr noch langsamer. Und griff nach der Flasche im Seitenfach. Als endlich das Schild Burgach – 15 km im Scheinwerferlicht auftauchte, war die Flasche halb leer …
Der Lauf der Waffe lag auf einem Baumstamm.
Davor senkte sich der mit Gras bewachsene Hang, setzte sich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße fort, wurde noch steiler und endete am Wald. Der Stamm war eine gute Auflage. Es war der Stamm einer alten zwanzig Meter langen, verdorrten Fichte. Der Sturm hatte sie aus der Erde gerissen. Zwischen den grotesk verdrehten, schlangenförmigen Wurzeln hingen Dreck und große Steine. Die Wurzelballen und die Büschel weiter unten boten genügend Sichtschutz.
Der Mann liebte es, wenn sich die Kolbenrundung des Gewehrs an seine Schulter schmiegte wie jetzt, denn dann passierte jedesmal das gleiche: Eine außerordentliche lustvolle, geradezu überirdische Ruhe ergriff von ihm Besitz, durchströmte ihn von den Schultern bis zu den Haarspitzen und von dort wieder über den Rücken zu den Zehen. So mußte es sein, o ja, genauso wie jetzt. Es war schon ein verdammt gutes Gefühl …
Langsam, ganz langsam drehte der Mann den Lauf nach links, dorthin, wo die Kurve begann, und wunderte sich dabei erneut über den spärlichen Verkehr. Vor fünf Minuten war ein Pulk von Autos vorbeigerauscht. Wahrscheinlich war er vor dem Überholverbot an der Kurve entstanden. Dann kamen zwei Lieferwagen, ganz langsam, und der Mann hatte versucht, die Reklame-Aufschriften an ihren Karosserien zu entziffern, aber seine Deutschkenntnisse hatten dazu nicht ausgereicht.
Und nun kam nichts mehr.
Ein Jaguar, dachte der Mann wieder. Ein 2,8-Liter-Jaguar …
Schwarzgrün, hatte der Dicke gesagt und ihm ein Foto gezeigt und wieder einmal so getan, als hätte er einen Idioten vor sich, der einen britischen Jaguar nicht von einem Wolga unterscheiden konnte. Schwarzgrün, na gut – aber wo blieb er?
Wie auch immer – der Jaguar würde die Kurve vermutlich ganz innen nehmen. Kam er mit Tempo, konnte er sich bis zum weißen Trennstreifen hinaustragen lassen, aber auch wenn er sich rechts hielt, war es kein Problem.
Der Mann preßte das Auge an das Okular.
Das Zielfernrohr tastete die zwanzig bis dreißig Meter ab, auf die es ankam. Er drehte den Lauf ein wenig nach rechts, und in dieser Vergrößerung wirkten die Nieten der Leitplanke, die dort drüben die Kurve sicherte, fast so groß wie Daumennägel. Vorhin hatte der Mann sie viel deutlicher gesehen. Jetzt schienen sie merkwürdig verwischt und dunkel, doch die Sicht reichte noch immer.
Er aktivierte die Infrarot-Einrichtung und ließ den kleinen roten Punkt wandern. Winzig, rubinrot, präzise hatte er zu sein, aber das Rot schien verblaßt, die Leitplanke verschwamm, ihre Ränder lösten sich auf, als seien sie in eine graue alles zerfressende Flüssigkeit gefallen. Nicht nur der Stahl dort zerfloß und verschwand, auch die Spitzen der Fichten am gegenüberliegenden Hang wurden zu Schatten. Eine weißliche Zunge leckte an ihnen hoch, hüllte sie ein, schob sich über die Straße …
Nebel! Herrgott, Nebel …
Der Mann hatte sich längst abgewöhnt, in solchen Situationen zu fluchen. Fluchen brachte nichts.
Nebel!
Und wie hatte der Dicke gesagt: »Nur der Chauffeur, hörst du? Du nimmst dir nur den Fahrer vor. Der auf dem Rücksitz darf keinen Kratzer abbekommen.«
Der auf dem Rücksitz?
Die Straße war weg, im Nebel verschwunden. Also würde es auch ›den auf dem Rücksitz‹ nicht mehr geben. Bei dieser Sicht würde er noch nicht einmal die Karre treffen. Wenn der Jaguar jetzt ankam, konnte er vermutlich gerade noch
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