Der Hypnosearzt
Gott!«
Christa stand am Empfang, einige Laborrechnungen in der Hand, die sie in den Computer tippen wollte, als der Postbote hereinkam.
»Herr Weiniger!« sagte sie freundlich.
»Ein Telegramm, Frau Doktor.«
»Ein Telegramm?«
Das Wort hatte etwas alarmierend Dramatisches – wann bekam man schon Telegramme? Allerdings war es gar nicht so lange her, seit Dagmar ein Telegramm über Rosis Tod geschickt hatte. Sonst aber gelangten alle dringenden Angelegenheiten, dazu ein Haufen unnötiger Kram, per Fax in die Praxis.
»Vielen Dank, Herr Weiniger.«
Christa öffnete das Kuvert. Es kam aus Frankreich. Aus einem Ort, der Saint Michel hieß. Daneben standen drei Buchstaben: Var . – Var ? Das klang Christa bekannt, das war doch die Côte d'Azur oder die Provence … oder beides zusammen?
›Lieber Herr Dr. Bergmann‹, las sie, ›auch für Sie wird es wohl irgend etwas wie Ferien gehen. Wie auch immer, die Zeit der vacances ist gekommen, die Sonne strahlt, das Meer leuchtet, und unser Haus wartet auf Sie. Meine Frau und ich würden uns unendlich freuen, Sie beide bei uns begrüßen zu dürfen. Bitte gehen Sie doch umgehend Bescheid, welchen Zeitraum Sie dafür in Erwägung ziehen könnten. ‹
Die Sonne strahlt, das Meer leuchtet …
Unser Haus wartet?
Was denn noch! Und ausgerechnet Lindner! Christa zerknüllte das Telegramm, warf es in den Papierkorb, trank ihren Kaffee aus und knöpfte sich wieder die Laborrechnungen vor. Noch so eine Bande von Betrügern …
Als Christa eine halbe Stunde später Stefan beim Essen gegenübersaß, erwähnte sie das Telegramm mit keinem Wort. Nicht aus Absicht, sie hatte es buchstäblich vergessen.
Dafür redete sie über die Laborrechnungen, und sie legte sich mächtig ins Zeug. Halsabschneider waren das doch!
Am kommenden Tag, kurz nach vier Uhr, summte das Telefon auf Stefans Schreibtisch. Er nahm ab.
»Ich hoffe, nicht zu stören, Herr Doktor.«
Eine Frauenstimme – und eine, die er sofort wiedererkannte. Wie sollte man auch soviel nasale, gestelzte Höflichkeit vergessen?
»Hier spricht Laura Faber, Herr Doktor, Laura Faber vom hiesigen Sekretariat Lindner.«
»Das höre ich.«
»Sie haben gewiß Herrn Lindners Telegramm erhalten? Es wäre nun sehr angenehm zu wissen, welche Disposition Sie treffen könnten und für welchen Zeitraum.«
»Zeitraum? Telegramm?«
»Wie bitte?«
»Ich habe kein Telegramm bekommen. Meinen Sie ein Telegramm von Herrn Lindner?«
»Selbstredend, Herr Doktor. – Sie haben kein Telegramm bekommen? Nun, das ist sehr merkwürdig. Ich werde die Sache sofort überprüfen lassen. Im allgemeinen ist doch die Post recht zuverlässig … Nun, wie auch immer, falls das Telegramm inzwischen noch eintreffen sollte, darf ich Sie bitten, mich anzurufen. Würden Sie freundlicherweise gleich die Nummer notieren.«
Er schrieb sich die Nummer auf, die sie durchgab, und legte auf.
Merkwürdig? Damit hatte die Dame verdammt recht …
Er verließ sein Zimmer und betrat den nächsten Raum. Christa war dabei, einem jungen Mann das Handgelenk zu schienen.
»Hör mal, was ist denn mit Marga los? Werden hier schon Telegramme verschlampt?«
Sie drehte den Kopf und widmete ihm einen halb schuldbewußten, halb wütenden Blick. »Das war nicht Marga. Das war ich … Ich hab dieses Lindner-Telegramm in den Papierkorb geschmissen und dann total vergessen.«
»Du hast was?«
»Hast du doch gehört. Ich hab's weggeworfen. Das Meer leuchtet – und lauter so ein Krampf! Und dann kam dieses Chaos mit den Laborrechnungen … Was ist? Du wirst doch nicht im Ernst dort hinfahren?«
Der Junge auf seinem Stuhl sah sie an, seine Augäpfel bewegten sich so rasch, als verfolgten sie einen Pingpong-Ball.
»Also wenn du mich fragst, Christa, ich finde es unmöglich, daß du Telegramme wegwirfst. Schließlich …«
»Schließlich handelt es sich um Lindner, nicht wahr? Um deinen Lindner! Laß mich bitte mit ihm in Frieden. Ich muß arbeiten.«
Stefan drehte sich zornig um und ging.
Sie stritten sich den ganzen Abend. Und wie so oft war es unmöglich, Christa von ihrer Position abzubringen, unmöglich schon deshalb, weil sie Stefan gar nicht zuhörte, obwohl er doch davon überzeugt war, die besseren Argumente zu besitzen.
Stets wurde die Praxis in der ersten Julihälfte für zwei Wochen geschlossen. Sie selbst hatten schließlich ein sehr schwieriges Frühjahr hinter sich, überbordend von Arbeit, also was war gegen eine Einladung in eine Millionärsvilla an der
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