Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
worden, seine zerschnittenen Hände zeugten davon, dass er zuvor versucht hatte, einen Angriff von vorne abzuwehren. Der Mord war im Schlafzimmer passiert, Ludwig in einen Morgenmantel gekleidet. Zudem war er sexuell erregt gewesen, höchstwahrscheinlich, weil er sich auf ein Abenteuer mit „ihr“ gefreut hatte.
Hatte Ludwig nun mit Marie-Thérèse eine intime Beziehung gehabt, oder nicht?
Albert Joffe hatte zugegeben, diese Frage bislang nicht gestellt zu haben. Aber was hätte ein Ja oder Nein auch zur Klärung des Falles beigetragen? Die Art, wie Marie-Thérèse mit beiden Oberkirch-Brüdern verkehrte, ihr natürlicher Mangel an Scham ließen diese Frage unerheblich erscheinen. Sicher, Philippe war eifersüchtig, aber Ludwig nicht minder, und selbst ich war noch lange nicht frei davon. Selbstgefällig, stolz, triumphierend oder wie auch immer … Ich lächelte vor mich hin und erinnerte mich zum wiederholten Mal an die unendlich köstlichen Minuten nach dem Degen-Duell: Marie-Thérèse war eine durchaus erfahrene Frau, welche, die die Dinge in die Hand zu nehmen verstand und wusste, dass auch eine Frau dabei auf ihre Kosten kommen konnte. Mit anderen Worten: Von jungfräulichem Gebaren war sie weit entfernt gewesen. War Ludwig ihr erster Mann? Und wenn nicht, wer dann? Oder hatte es einen solchen gar nicht gegeben? Dass sich Zöglinge von Mädchen-Pensionaten in sapphischen Spielen ergingen, war alles andere als ein Gerücht und Marie-Thérèse schauriger Bericht deswegen glaubhaft. Die Jungfernschaft im Pensionat verloren zu haben minderte die Heiratschancen nicht. Im Gegenteil, Mädchen, die derartiges durchblicken ließen, galten bei ihren zukünftigen Ehemännern als in der Liebe erfahren. Es gab etliche Männer, die diese „Lesbierinnen“ schätzten, weil diese Gattinnen, wie sie hofften, ausschweifenden Bettgeschichten ausgeschlossen begegneten.
»Nachher war ich der erste?«
Ich drehte Däumchen und schmunzelte vor mich hin. Schließlich ist man zu allererst ein Mann, was heisst, dass das Arzt- und Hypnotiseur-Dasein ins zweite Glied gehört. Wenigstens aber konnte ich mir zugute halten, selbstironisch zu sein, und war darum auch in der Laune, das Vorurteil der Frauen zu bestätigen, das da heisst: Männer sind alle gleich und ihr liebstes Geistesbild nackte Frauen, die sie nach ihren Vorstellungen begucken, beschnüffeln und beschlafen.
Es bereitete mir zusehends Mühe, mich auf vernünftige kriminalistische Gedanken zu konzentrieren. Zusehends lenkte mich die näherrückende heimatliche Umgebung ab. Die Strecke entlang der Ehn, in deren lichten Gehölzen bereits frisches Grün zu entdecken war, ließ mein Herz zunehmend unruhig schlagen. Über mir zogen Wildgänse in Richtung Osten, in der Krone einer abgestorbenen Eiche erspähte ich ein Storchennest; sein Bewohner war sogar auch schon da. Der Frühling drängte in die Natur, und hier, in der warmen Rheinebene schien er längst angekommen zu sein, obwohl der Kalender noch immer Februar anzeigte.
»Was also noch?« Kurz vor Meistratzheim riss ich mich noch einmal zusammen. Dreiviertel der Strecke bis zum Gut lagen hinter mir, das letzte Stück ging nach Westen in Richtung des Vogesen-Vorgebirges. Ich sprach laut vor mich hin: »Da ist noch der Ring, den Ludwigs Mädchen im Teppich gefunden hat, und mit diesem wurden in die Scheibe ominöse Buchstaben geritzt. Albert Joffe und ich vermuten, dass es Abkürzungen sind und einige der Buchstaben dieses Kryptogramms für: ‚Du wirst mich vergessen’ stehen. Wer nun war der Glas-Ritzer? Der Mörder? Ludwig? Oder Marie-Thérèse? Sie scheidet aus, weil es ihr Ring war und sie ihn bei Ludwig verloren hat. Der Mörder wird es ebenfalls kaum gewesen sein, denn dann hätte er den Ring besitzen müssen. Also Ludwig. Was aber hätte ihn veranlassen können, so etwas zu tun? Welche Absicht verfolgte er?«
Als ein Wegkreuz in Sicht kam, unterbrach ich meinen Monolog. Meine Aufmerksamkeit wurde von einer Frau in Anspruch genommen, die stumm und mit gefalteten Händen vor einem Bildstock stand. Er war der Heiligen Odilia, der Schutzpatronin des Elsasses geweiht, die von all denen verehrt wurde, die Augenleiden oder gar Blindheit ertragen mussten. Odilia war selbst blind geboren worden, hatte aber durch ein Wunder bei ihrer Taufe in einem burgundischen Kloster das Augenlicht gewonnen. Hoffte diese Frau auf ein ähnliches Wunder? Sie trug die Festtagstracht einer wohlhabenden Bäuerin: weiße Rüschenbluse mit
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