Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
streng, dass er selbst Esquirols Büro für einen Moment in einen Krankensaal verwandelte.
»Madame Bonet wird morgen Mittag von ihrem Mann abgeholt werden«, kam Esquirol zu Sache. »Sie dürfen Sie jetzt noch einmal besuchen und sich ihrer annehmen. Aber seien Sie vorsichtig!«
Er hob schelmisch den Finger, nickte mir noch einmal freundlich zu und schloss das Fenster. Irgendein Elefant hatte gerade zu trompeten begonnen, so nah lag die Salpêtrière beim Zoo, der vor der Revolution bekanntlich noch ein botanischer Garten gewesen war. Wie sinnig doch alles ist, dachte ich, als ich Raoul durch den Gebäudekomplex folgte. Ob Elefant, Bär, Antilope oder der König der Tiere – sie alle werden genauso eingesperrt wie die vermeintliche Krone der Schöpfung. Aber dies ist nicht sentimental gemeint. Denn gerade hier, in der „bösen“ alten Salpêtrière, war der Fortschritt mit Siebenmeilen-Stiefeln eingezogen. Wo einst die Frauen in den Zellen an die Wand gekettet waren und auf mit ihren eigenen Exkrementen verunreinigten Stroh vor sich hin siechten, wurde gekehrt und geputzt, die Zellen gelüftet und das Mauerwerk ausgebessert. Früher waren die niedrigen Häuser der „Basses Loges“ nichts als finstere, feuchte Löcher. Wenn die Seine Hochwasser führte, verwandelten sie sich in Behausungen für Legionen von Ratten. Mit der Folge, dass wenn sich nachts die Zellentüren schlossen, die Einsitzenden zu lebenden Futterplätzen wurden. Wer krepierte, war am nächsten Morgen bis auf den Knochen angenagt.
»Diese Bonet ist hübsch, nicht?«
Raoul grinste. Ich schaute ihn nur scharf an. Wieviel Frauen mochte er wohl geschwängert haben? Ein Dutzend? Oder gleich zehn Dutzend? Wer sagt, die Pfleger würden immer wieder von ihren Patientinnen verführt werden, ist in meinen Augen ein Verbrecher. Als ob es ein unumkehrbares Gesetz ist, dass, wenn eine Patientin den Rock hebt, sie eine zu „Befriedigende“ ist. Fast immer will sie sich damit nur irgendwelche Vorteile verschaffen. In den allerseltensten Fällen ist sie wirklich so „ausgehungert“, dass sie allein von ihrem Trieb gesteuert wird.
»Hübsch?«, fragte ich zweifelnd. Nun, was sollte ich lügen. Also sagte ich, da sei was dran, aber ob dies denn eine Rolle spiele?
»Wer hübsch ist, hat´s leichter, Monsieur«, antwortete Raoul trocken. »Aber ich kann Sie beruhigen: Auch wenn ich aussehe wie ein Bock, bin ich nicht so einer, wie Sie denken.«
Ich schwieg, Raoul lachte heiser auf. Wirkte ich etwa verliebt? Gelächelt hatte ich wohl ein paarmal – also beschloss ich, jedweden Spekulationen zuvorzukommen und sagte: »Sie hat die Augen meiner Schwester Juliette, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Plötzlich waren sie wieder da, die Bilder und Laute der Vergangenheit: Juliettes feuchte Stirn, ihre ängstlichen Augen, ihr Stöhnen. Wir waren die einsamsten Menschen der Welt, und ich wurde ohnmächtig vor Hass auf … Ja, dies ist meine Geschichte. Meine Gabe ist auf tragische Weise mit dem Schicksal meiner Schwester verbunden. Ich weiß nicht mehr, wer Folgendes gesagt hat: Nicht Zufälle, sondern die eigenen Erfahrungen, die danach streben, in Handlungen umgesetzt zu werden, machen das Schicksal aus. Ja, genau so war es bei mir und Juliette.
Meine Gabe. Als ich begonnen hatte, auf sie einzureden und die Sterbende mit meinen Augen gleichsam aufsaugen wollte, hatte sie sich entspannt – und bis in den Tod hinein gelächelt.
»Ehrlich gestanden, Madame, wir hatten Angst, Sie würden meiner Suggestion für den Rest Ihres Lebens nur allzu bereitwillig folgen. Monsieur Esquirol nahm mich deswegen ordentlich ins Gebet. Doch der Appetit, mit dem Sie gerade Bohnensuppe löffeln, straft seine Befürchtungen zum Glück Lügen, nicht wahr?«
Marie Bonet blickte auf und nickte stumm. Sie bewohnte ein Einzelzimmer mit Blick auf den Gemüsegarten. Unter der Aufsicht mehrerer resoluter Bäuerinnen wurde dort ein Teil des im Hôpital benötigten Gemüses gezogen. Zwei Frauen, die Unkraut jäteten und Gießkannen schleppten, fielen mir auf. Ihre fahrigen Bewegungen und die steife Kopfhaltung deuteten darauf hin, dass sie vor kurzem die Dusche erlitten haben mussten. Sofort regte sich mein Widerwillen. Quacksalber-Schwachsinn, murmelte ich, denn für mich war die Dusche nie etwas anders als Effekthascherei. Ein Machtmittel, dessen primitive Heftigkeit nur die physische Konstitution untergrub. Angekettet auf dem sogenannten Duschstuhl, einem Holzfauteuil, wurden die
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