Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Eltern gelang, mir einzureden, meine Grazilität benötige als Pendant die gesunde Kraft eines herzensguten Kraftmeiers. Sie redeten beharrlich auf mich ein, und irgendwann glaubte ich ihnen. Ich hörte sie von Liebe, Zauber, Glück, Sicherheit reden und begann zu lächeln. Schließlich riefen all diese guten Worte meiner Eltern keinen Widerspruch mehr in mir hervor. Ich habe ihnen vertraut. Nun weiß ich, dass ich geträumt habe und auf den falschen Schein wohlklingender Begriffe hereingefallen bin.«
Ruhig und ganz beiläufig fasste ich Madame Bonet ins Auge und konzentrierte mich darauf, sie in meinen Blick einzuspinnen wie in einen unsichtbaren Kokon. Wieder durfte ich erleben, wie geradezu genial Marie Bonets Suggestibilität war. Mit atemberaubender Geschwindigkeit versank sie in der Wärme und Klarheit meiner Augen, ließ sich in Rapport setzen durch bloßes Anschauen und Wollen - ohne pendelnde Taschenuhr, Metronomschläge, Handauflegen oder sonstige Suggestionsstimulantien. Selbst ihre Augen blieben offen – womit Marie Bonet für einen Psychiater vom Schlage meines Chefs Roger Collard bereits eine geistig Gefallene gewesen wäre: Denn wer sich allein durch konzentriertes Anblicken beherrschen lasse, so seine Auffassung, sei der Wahnwelt näher als der Vernunftwelt. Eine dumme, apodiktische Behauptungen, die Collard leider aus Esquirols 1816 erschienenem Buch Von den Geisteskrankheiten ableitete.
»Madame, ich schaue Sie nur an, und Sie wollen mir bereits folgen?«
»Ja. Denn sie starren ja nicht wie Monsieur Esquirol! Ihnen vertraue ich. Sie wollen Gutes. Ich bin frei wie ein Vogel und folge Ihnen, wohin Sie mich auch führen wollen.«
Schlagartig begriff ich, dass Marie Bonet in mir den Menschen sah, der ihr neue Welten aufschließen sollte, in die sie auch in Zukunft zu reisen wünschte. Gleichwohl waren ihre Sinne hellwach. Sie glichen Tentakeln, die sie mit der Nüchternheit des Diesseits verbanden, andererseits aber ruhte sie in einer Art taghellem Schlummer. Sie wirkte körperlos, aber um sie herum schien eine weiche unsichtbare Flamme aus Myriaden empfindlichster Nervenenden zu schweben, die im Meer von Äther und Atmosphäre auf Botschaften und neue Erfahrungen warteten.
»Würden Sie starren, Monsieur«, fuhr Marie Bonet fort, »wären Sie ein Tiger. Scheue Tiere, wie ich eines bin, müssten dann sterben. Aber Sie sind weder ein Tiger noch eines der anderen irdischen Katarakte. Sie haben Licht um sich ...«
»Was fühlen Sie? Was erleben Sie?«
»Ich sehe mich von außen, doch auch Bohnensuppe, Brot und Wein in meinem Bauch. Mein Körper ist mir wie ein Uhrwerk in einem Kristall. Ich vermeine meine Adern zu sehen und die Wülste meines Gehirns. Aber sofort spüre ich, dass Sie jetzt eine Art Grausen überfällt, nicht wahr? Indem Sie mir Glauben schenken, beunruhigen Sie sich. Sie fürchten, ich könnte in Ihre Seele hineinspringen, in die Räume, in denen Sie Ihr Leid vergraben haben.«
»Sie haben recht, Madame«, antwortete ich, ohne auf die Ungeheuerlichkeit ihrer letzten Behauptung einzugehen. Gleichwohl war ich tatsächlich beunruhigt. »Ich ahne, Sie gleichen einer Seherin, die wie ein höheres Wesen mehr von der Welt empfindet als andere. Wie ich es erklären kann, weiß ich nicht. Ich bin nur ein simpler Arzt, der wünscht, dass Sie wieder im Kreis Ihrer Familie Appetit haben. Sie können mir den Wunsch erfüllen, wenn Sie es möchten, ihn aber auch ablehnen und hier bleiben. Sie haben die Macht, nicht ich. Aber ich versichere Ihnen, für mich wäre es ein wirkliches Geschenk.«
Marie Bonet schwieg. Atemlos verfolgte ich, wie ihre Rehaugen zu rollen und nach innen zu schielen begannen. Unverwandt blickte sie mich mit dieser bizarren Augenstellung an, wobei sich der waagerecht liegende halbmondförmige Rest ihrer Augen bis zur Leblosigkeit verschattete, um nach etlichen Minuten völliger Ruhe allmählich wieder an Glanz zu gewinnen.
Ich fühlte mich ausgeschlossen und hilflos. Mein Instinkt aber sagte mir, dass ich mich in diesem Augenblick weder eitlen noch verzagten Gefühlen hingeben durfte, wie etwa an Juliette zu denken. Beides würde den Rapport stören und die unsichtbaren Maschen zerreißen, an denen Marie Bonet webte. Alles lag nun bei ihr. Ich hoffte, dass das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, den Wunsch in ihr wachsen ließ, mir eine Freude zu machen. Denn nicht Zwang, sondern Freiheit, so mein Credo, war das Geheimnis aller „guten Suggestionen“. Beschloss
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