Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
eine war, wollte sie natürlich an solch einem Ort nichts dem Zufall überlassen. So hatte sie schon Stunden vor ihrem Auftritt den Großen Konzertsaal aufgesucht, um sich einzuspielen.
Ich wusste davon, Philippe nicht - allerdings war dieser Wissensvorsprung teuer erkauft: Als ich Marie-Thérèse morgens aufsuchte, um sie zu fragen, ob ich sie begleiten dürfe, fertigte mich Ludwigs Mädchen gleich an der Tür ab: Mademoiselle wünsche keinerlei Behelligungen und wünsche hinfort, mit ihrem Onkel allein gelassen zu werden. Philippe nun ging aristokratisch vornehm davon aus, es sei ausreichend, Marie-Thérèse gegen Abend mit einem pompösen Strauß roter Rosen aufzusuchen, um dann in einem Zweispänner zum Conservatoire zu rollen.
Ich traf ihn eher zufällig vor dem Eingang – nun gut, nicht ganz zufällig, denn kopflos wie ich war, schlich ich wie ein verliebter Kater durch den Park und hoffte darauf, irgendwann einen Blick auf die Geliebte werfen zu können.
»Du auch?«
»Ich auch.«
»Wir sind verloren«, heulte Philippe.
»Wie war es denn bei dir?« fragte ich.
»Ich warf Ludwigs Mädchen meinen Rosenstrauß ins Gesicht, weil sie mir mitzuteilen geruhte, Mademoiselle sei längst fort. Und weil ich das Schlimmste befürchtete, nämlich, dass du möglicherweise schneller gewesen sein könntest, fragte ich eifersüchtig, stolz und dumm: ‚Aber sie ist allein, oder?‘ ‚Nein‘, kam die schnippische Antwort dieses Weinschlauchs. ‚Der Klavierfabrikant Monsieur Érard und auch ihr Herr Onkel sind zugegen.‘«
Wir musterten uns betont abschätzig und umarmten uns darauf mit gespielter Heiterkeit. Doch kaum hatten wir das Bogenportal des Conservatoire durchschritten, mussten wir die zweite Enttäuschung hinnehmen: Die Concierge bedeutete uns, Mademoiselle habe strikte Anweisung gegeben, nicht gestört zu werden.
Philippe meinte, das sei alles andere als unverständlich und er könne Mademoiselle bestens verstehen, aber für ihn gelte diese Anordnung bestimmt nicht.
»Warum?«
Die Concierge war eine jener knochigen und selbstbewussten Frauengestalten, die sich von niemandem beeindrucken ließen. Ihr Reich linkerhand des Eingangs war nicht nur mit Schreibtisch und wandhohen Regalen, sondern auch mit einem Apothekerschrank und zwei Feldpritschen versehen: Zuweilen nämlich hielten die reizbaren Nerven der musikbegabten Mademoisellen und Messieurs der Kritik ihrer Professoren nicht stand. In solchen Fällen wurde dann die arzneikundige Concierge gerufen, die ihr Nebenamt als große Trösterin des Conservatoire so ernst nahm wie die Katholische Kirche den Papst.
Philippe reagierte gereizt. »Warum, Madame Concierge? Vielleicht, werte Frau, weil Mademoiselle Marie-Thérèse gegenwärtig in der Wohnung meines Bruders ihr Zuhause hat!«
»Ah! Dann müssen Sie Baron Philippe Oberkirch sein, Monsieur. Aber ich bedaure. Für Sie und noch einen Herren, warten Sie, ich verrate Ihnen, wie er heisst« - die Concierge angelte einen Zettel aus der Ablage - »für Sie und einen Monsieur Coquéreau gilt diese Anordnung in ganz besonderem Maß. Tut mir leid. Mademoiselle möchte nur ihren Onkel und Monsieur Érard um sich haben.«
Die Concierge schaute weder spöttisch noch strafend. Philippe allerdings machte ein Gesicht, als habe ihn jemand angespuckt. Noch schlimmer als nicht vorgelassen zu werden, war für ihn die Erkenntnis, dass Marie-Thérèse ihn und mich tatsächlich auf ein und dieselbe Stufe stellte. Zum Glück bewahrte ihn seine Würde davor, wie ein verschmähter Liebhaber aus dem Gebäude zu stürmen.
»Ja, die Künstler. So sind sie. Ich hätte es wissen müssen. Bin schließlich selbst einer.«
Er schüttelte den Kopf, setzte seinen Zylinder auf und entschwand in den angrenzenden Park.
Ich könnte nun auf das eigentliche Konzert zu sprechen kommen, mit dem Marie-Thérèse die Herzen der Pariser Musikwelt eroberte, aber stattdessen werde ich ihr das Wort überlassen. Ich tue es nicht ohne Grund. Denn wie bereits angedeutet, waren im Großen Saal des Conservatoires nicht nur Monsieur Érard, der Klavierfabrikant, dem sie eine höhere Patronage entlocken wollte, sondern auch ihr „Onkel“ zugegen. Kein anderer kann ihn so gut charakterisieren wie Marie-Thérèse. Sie soll und wird diesen Mann vorstellen, der eine solch gewichtige Rolle in unser beider Leben spielte. Darüber hinaus zeigen ihre Worte, wie sie sich dereinst gefühlt und welche Empfindungen sie tatsächlich bewegt hatten.
Wohlan –
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