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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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endlich, Greis!«
    Ich wartete nicht ab, bis mein Onkel es sich auf dem knarzenden Bühnenstuhl bequem gemacht hatte, sondern donnerte wütend die bravouröseste Kadenz in die Tasten, die bis dato ein Komponist geschrieben hatte. Onkel Balthasar war´s zufrieden. Auch er mochte Beethoven. Entsprechend fieberte er dem Tag entgegen, an dem ich mir dieses Bravourstück von fünftem Klavierkonzert endgültig erarbeitet haben würde. Den ersten und zweiten Satz hatte ich bereits im Kopf, jetzt waren auch die Tage für den letzten Satz gezählt. Vom Motiv bis zur Phrase, von Taktgruppen bis zu einzelnen Gedanken, Nebengedanken und ganzen Sätzen: Ich lernte jedes Werk auswendig, nach Noten, die für mich ins Riesenhafte kopiert wurden: Die Notenköpfe waren groß wie Fäuste, die Hälse lang wie drei Handspannen und die Balken von Achteln und Sechzehnteln hatten die Ausmaße ganzer Ellen. Künstlermappengroß war das Format dieser Notenblätter, die mein Onkel in parfümiertes Schweinsleder binden ließ. Jede Komposition geriet auf diese Weise zu einem Schwergewicht und Beethovens fünftes Klavierkonzert dabei zu einem wahren Koloß.
    Ohne Übergang fiel ich aus dem fünften Klavierkonzert in Beethovens Les-adieux-Sonate. Absichtlich spielte ich sie ohne Sensibilität, tat aber so, als würde ich mich voll konzentrieren. Onkelchen hörte aufmerksam zu, doch irgendwann wurde er unruhig. Als ich geendet hatte, forschte er in meinem Gesicht, ich bin jedoch eine gute Schauspielerin: Mit der Attitüde des von seiner Leistung überzeugten Künstlers senkte ich das Haupt, um schließlich mit lautem Seufzer zu verkünden, dass die schwere Arbeit des Einspielens vollbracht sei.
    »Weisst du, ich glaube, dieser Petrus hat mich doch mehr beeindruckt, als ich vielleicht zugeben mag«.
    »Petrus?«
    »Hab ich dir noch nichts von ihm erzählt?«
    »Führe mich bloß nicht an der Nase herum.«
    »Wo denkst du hin! Aber dieser Petrus – du weisst doch, er ist der Retter La Belle Fontanons. Er könnte mir möglicherweise mit einer seiner Suggestionen meine Sehkraft zurückgeben. Als Ausgleich dafür, dass es dem Herrgott gefallen hat, den Mann zu sich zu nehmen, der mir eine feste Verbindung antrug. Findest du nicht auch, dass es einen Versuch wert wäre?«
    Bewußt legte ich Süße und eine gewisse Dümmlichkeit in meine Stimme. Denn selbstverständlich konnte ich die Wirkung meiner Worte abschätzen. Sie waren reine Provokation. Dazu das unschuldige Kindergesicht, das ich zog – mein Onkel konnte in allem nur eine Kampfansage erblicken.
    »Du wirst ihm freundlich mitteilen, dass ich in London bereits einen Augenspezialisten kontaktiert habe und du erst dessen Bemühungen abwarten möchtest«, schnarrte er. »Dann wird man weitersehen. Aber wer auch immer dieser Petrus ist, mein Kind: Ein Subjekt, das Huren wieder in die Lage versetzt, ihr schmutziges Treiben fortzuführen, ist deiner nicht wert.«
    »Weitersehen. Ja, dies Wort gefällt mir.«
    »Ich hätte Lust, dich zu züchtigen!«
    Die schneidende Antwort ängstigte mich nicht. Und auch mein Onkel wusste genau, dass ich aus seinen Worten allein Eifersucht heraushörte. Seine Angst, mich mit jemandem zu teilen und nicht länger beherrschen zu können, wuchs mit jedem Monat. Mittlerweile gestand er sich selbst ein, dass er krank war. Aber das war ihm egal. Er wollte sich weder mit seiner Eifersucht auseinandersetzen, noch gegen sie ankämpfen. Die Zeit jedoch arbeitete gegen ihn. Mein Onkel empfand sie wie ein Stecheisen, das unsere Zweisamkeit spaltete. Ohnmächtig vor Wut schlug er sich manchmal die Faust gegen den Schädel oder boxte sich gegen die Augen. In seinem schlimmsten Wahnmoment hatte er einmal zum Messer gegriffen, um sich die Kehle durchzuschneiden. Sterbend wollte er mich an sich pressen, um schließlich auf mir zu sterben. Er begehrte mich nicht wie so viele andere Verwandte ihre Nichten. Aber er wollte mich rein wissen. Unbefleckt. Makellos. Meine Gefühle sollten ihm und der Musik gelten, keinem anderen. Ich durfte ihn hassen, verachten, mit dem Gedanken spielen, ihn zu foltern und zu töten – solange er Gegenstand meines Denkens war, ertrug er all meine Launen.
    Und wie stand es um mich?
    Mein SelbstBewusstsein wuchs im selben Maß wie mein Repertoire. In den Tagen, in denen ich allein im vornehmen Hôtel des Princes nahe den Champs-Élysées wohnte, war ich aufgeblüht wie eine Rose. Das Glück, hier fünf Tage logieren zu dürfen, werde ich nie vergessen. Das

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