Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
steinstarr, mein Verstand wie erloschen. Allein das Gefühl von etwas gänzlich Unbegreiflichem hielt mich gepackt, etwas, von dem ich wusste, dass es bald Gestalt annehmen und sich mir dann als unabwendbare und grauenhafte Tatsache präsentierten würde. Die Angst davor brachte mich schließlich zum Wimmern, bis mein verwirrtes Gemüt Frieden fand, in dem es ehemalige Patienten auftreten ließ: Ich sah den Vollbärtigen, der sich unablässig in großartigen Gesten erging, den stoppeligen Rothaarigen, dessen wasserblaue Augen unablässig auf einen Punkt in seiner Zelle stierten und den schmächtigen Seine-Fischer, der, die Ellenbogen im Schoß, auf einem Schemel kauerte und wie ein im Trotz erstarrtes Kind schaute. Dann war da der Priester mit dem wallenden Prophetenbart, der mit einer Nadel Steine ritzte, kretine Frauen, die ihre Häubchen beschnupperten, die angekettete Wäscherin, die nichts unversucht ließ, sich die Pulsadern mit den Zähnen aufzubeißen.
Am nächsten Morgen versetzte ich mir vor dem Trumeau eine Ohrfeige und schrie mein Spiegelbild an, ich gehöre nach Charenton und dort unter die kalte Dusche. Ungefrühstückt verließ ich die Rue Monge, und als erstes flog das Kästchen samt Asche in die Seine. Darauf kehrte ich beim nächstbesten Coiffeur ein, ließ mich rasieren und mir das Haar schneiden. Mittags genehmigte ich mir ein ausgiebiges Essen im „Le Petit Bon“, wo ich merkte, dass ich wieder zu mir gefunden hatte, als ich Monsieur Poulenc, den Wirt, fragte, ob er möglicherweise vergessen habe, mir das Glas Champagner zu servieren …
Und dann?
Ließ ich mir, wie weiland mein Exchef Roger Collard, in einem einschlägigen Etablissement die Hose aufknöpfen.
Derart geheilt trotzte ich draußen nicht nur der nebligen Kälte, sondern Fasste auch einen längst fälligen Entschluß:
»Du fährst jetzt zu Philippe und kondolierst ihm.«
Auf der Petit Pont hielt ich einen Charetteur an und ließ mich von ihm in die Rue de Vaugirard ziehen. Philippe war gerade mit dem Essen fertig geworden, saß aber noch bei Tisch. Ich käme genau richtig, empfing er mich.
Ich zog alle Register meines Schauspieltalents und fiel ihm mit Grabesmiene um den Hals. Philippe aber lachte mich nur aus und hielt mir eine freundliche Standpauke: Es sei ungehörig von mir gewesen, nicht mit nach Ehnheim aufs Gut gekommen zu sein, um Ludwig in der Familiengruft den letzten Gruß zu entbieten.
»Himmel! Dir wären natürlich keine Unkosten daraus erwachsen! Als ob ich nicht wüßte, dass du jetzt allmählich aufs Geld schauen musst. Soviel von Ökonomie verstehe ich auch. Schade, dass dir die Gutswirtschaft genauso wenig liegt wie mir. Ich muss jetzt leider jemanden finden, der Ludwig ersetzt und der genauso gut im Wirtschaften ist wie er. Einmal ganz davon abgesehen, dass dieser jemand ein Mensch sein muss, dem ich rückhaltlos vertrauen kann.«
Auch wenn Philippe von Natur aus redselig war, wirkte er alles andere als erschüttert. Obwohl die Beisetzung nur wenige Tage zurücklag, umgab ihn die Ausstrahlung eines lebensfrohen Dandys, der sich eine Flasche Champagner nebst Suppe, Hummer, Truthahn mit Trüffeln und Schokoladentorte einverleibt hatte. Wie feuchter Dunst hingen die Essensdüfte in dem im Louis-Seize-Stil gehaltenen Eßzimmer, dessen Wände mit etlichen chinesischen Landschafts-Grafiken geschmückt waren.
Philippe riss das Fenster auf, klingelte nach seinem Diener und verlangte Kaffee und Schokolade.
»Und nun staune!«
Philippe ließ es sich nicht nehmen, die Doppelflügeltür, die in den Salon führte, wie ein Lakai für mich zu öffnen. Ebenfalls im Louis-Seize-Stil gehalten, bot der Salon fürwahr einen königlichen Anblick: Und zwar nichts Geringeres als eine Gemäldegalerie, die Unsummen verschlungen haben musste. Auf Anhieb fielen mir drei Watteaus ins Auge, nebst zwei Landschaften von Ruisdael. Ein Rembrandt war bestimmt auch dabei. Dazu entdeckte ich Blumen-Stilleben von van Huysum, Porträts von Tizian und Holbein und zwei Heilige Familien auf der Flucht, ganz im Stile Raffaels.
»Tja, so sieht meine Art von Suggestion aus. Kunst! Ich lasse mich von bemalter Leinwand bannen! Was man wohl Autosuggestion nennt, nicht wahr? Wer mir länger zusähe, würde Zeuge werden, wie ich die Mienen der Menschen auf den Bildern nachzuahmen versuche. Mimesis also. Meine Wangen beginnen zu vibrieren, der Mund zittert, die Augen rollen. Ich beginne zu grunzen, irgendwann brechen die Pupillen hinter Tränen.
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