Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
griff nach den mir hingehaltenen Kohlestiften. Schwungvoll verteilte ich quer über die Programmzettel etliche Autogramme, dann rief ich, nun sei es genug, und zog mich in den Ruheraum zurück, wo ich voller Vorfreude auf meinen Auftritt wartete. Die Zuneigung und Sympathie der Mädchen war das beste Omen. Strasbourg, Basel, Zürich, Mailand, Innsbruck, München, Stuttgart – all diese Städte hatte ich bereits erobert, auch Paris würde mir zu Füßen liegen.
Und Onkelchen?
Vielleicht biß er sich Hautfetzen von der Unterlippe, vielleicht schlug er sich auch wieder die Fäuste gegen die Augen. Er wusste, dass er gerade eine Niederlage erlitten hatte. Ein anderes war, damit fertig zu werden. Aber was sollte er tun? Meine Mündigkeit konnte er mir nicht mehr nehmen. Ludwigs Tod war bestenfalls ein Pyrrhussieg für ihn. Doch das Schicksal hatte bereits frische Kräfte geschickt: Philippe und Petrus.
Vivat, Marie-Thérèse! Ich glaube, ich werde ihr an anderer Stelle noch einmal das Wort erteilen – nun ist es aber wieder an mir zu erzählen. Obwohl sie bereits vier Vorhänge hinter sich hatte und die ersten Kollegen in die Künstlergarderobe drängten, um sie zu beglückwünschen, wurde noch immer im Saal applaudiert.
»Eine Zugabe, Marie-Thérèse! Um Gottes willen, spielen Sie eine Zugabe!«
François Antoine Habeneck nahm ihr die Blumen ab und reichte sie Luigi Cherubini, der sie achtlos dem Nächststehenden in die Hand drückte – mithin meiner Wenigkeit. Da aber Blumen mehr etwas für „malerische Herren“ waren, entledigte ich mich des Straußes, indem ich ihn Philippe einfach an die Brust drückte. Marie-Thérèse protestierte, aber Dirigent Habeneck und Konservatoriumsdirektor Cherubini nahmen sie kurz entschlossen in die Mitte und geleiteten sie zurück auf die Bühne. Ein wenig benommen ließ Marie-Thérèse sich wieder vor dem Instrument auf dem Schemel nieder, drehte sich zum Publikum und sagte:
»Möglicherweise habe ich Ihre Herzen erobert – aber dass Sie mein Herz erobert haben, das weiß ich gewiß.«
Der Applaus übertönte die erste Noten des Ah-vous-dirai-je-Maman-Themas. Zwölf Variationen hatte Mozart auf seiner Paris-Reise 1778 darüber komponiert: entzückend geistvolle Miniaturen, denen man nicht anhörte, dass er sich zur selben Zeit Sorgen um seine Mutter machte, die in ihrer elenden lichtlosen Pariser Absteige kränkelte und dort schließlich starb. Ich lächelte, Philippe lächelte, dito Habeneck und Cherubini. Denn wenn eine schöne Frau Mozart spielt und dann noch diese Variationen - das ist nicht minder delikat und apart für Augen und Gemüt, wie einer frühreifen Debütantin beim Tanz zuzuschauen.
Madame Catalani, die neue und dralle Direktorin des Italienischen Theaters, seufzte neidisch. Monsieur Béranger leckte sich gleich mehrfach die Lippen. Nebst dem Gott aller Chansonniers waren noch viele andere Künstler gekommen, die jetzt nach und nach auf Zehenspitzen in die Garderobe schlichen: der junge Wiener Henri Herz zum Beispiel, Schüler von Kompositionsprofessor Rejcha, dem als Pianist hier die gleichen Lorbeeren winkten wie Friedrich Kalkbrenner, der einst am Conservatoire studiert hatte und nun in London wirkte. Der junge Mann lauschte mit gespannter Anteilnahme und warf dann und wann scheue Blicke auf einen schlanken Mann in hellem Rock, dessen Finger nervös zitterten. War das nicht Johann Peter Pixis? Der Virtuose? Ich war mir nicht sicher, aber die kräftige fleischige Hand deutete auf einen Pianisten. Die beiden bärtigen Herren jedenfalls, die neben Philippe standen, mussten ihrer gravitätischen Ausstrahlung nach Professoren sein: der ältere vermutlich Antonin Rejcha, der andere François-Adrien Boieldieu. Zwischen ihnen eingeklemmt stand ein blasser Jüngling, dessen Namen ich zufällig im Vorbeigehen gehört hatte: Adolphe Adam. Mir entging nicht, wie dieser Adam Maestro Daniel Auber, dem neuen Stern am Pariser Opernhimmel, Blicke zuwarf, die nichts anderes zu sagen schienen, als: Paß auf, wenn meine Stunde gekommen ist, endet die deine.
Aber die wievielte Variation spielte Marie-Thérèse eigentlich gerade? Die vierte, oder war es bereits die fünfte? Das Thema hatte sich ins Kecke verwandelt, hüpfte allerliebst daher und alles klang wie eine unschuldige Neckerei. Das Knistern in der Garderobe nahm ab, das Rascheln wurde weniger, das Atmen flacher. Wieder öffnete sich die Tür, wieder zog ein kalter irritierender Luftzug in die Künstlergarderobe.
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