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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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Ich nahm zuerst nur eine schwarze Soutane wahr, dann einen blanken Schädel.
    Mein Hals krampfte sich zusammen, und für einen Augenblick hörte mein Herz auf zu schlagen.
    Nahm vor etlichen Wochen mein Lebensweg eine neue Richtung, als Marie Bonet bei mir in Charenton auf der Chaiselongue die Augen öffnete, türmte sich jetzt eine düstere grauenerregende Wand vor mir auf. Von einer Sekunde auf die andere brachen jene Bilder in mein Gedächtnis ein, vor denen ich seit mehr als einem Dutzend Jahren davonzulaufen wünschte. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden weggerissen, und ich glaubte einen Augenblick lang, wirklich zu fallen.
    Abbé Balthasar de Villers - er war der ominöse Onkel aus den Zeitungen, er also Marie-Thérèses Impresario! Mein Entsetzen vernichtete alle Musik. Ich starrte Abbé de Villers an, jenen Mann, der meiner Schwester Juliette in ihrer schwersten Stunde die Absolution verweigert und sie stattdessen als Hurenmädchen beschimpft hatte. Doch er hob nur die Augenbrauen, weil er Philippe gewahr wurde.
    Mich erkannte er nicht! Abbé de Villers schöpfte weder Verdacht noch weckten meine entsetzten Blicke seinen Argwohn. Für ihn war der Mann im braunen Samtanzug einer von vielen Bewunderern seiner hochbegabten Nichte, ein beliebiger Monsieur mit Wangennarbe. Sollte der ihn ruhig anstarren. Warum auch nicht? Einen alten Glatzkopf wie ihn vermutete man eben nicht in einer Künstlergarderobe!
    Und Marie-Thérèse spielte Mozart – weiblich, hingebungsvoll, duftig. Mir aber zerfiel ihr Spiel zu einem lästigen Klingklang. Die Akkorde schnitten mir ins Herz, und die sausenden Sechzehntel der linken Hand verwandelten sich in schnödes Gepolter.
    Noch eine Variation. Ah – jetzt Minore, Moll statt Dur, nicht mehr lustig, sondern traurig - piano statt forte. Ich glaubte, schreien zu müssen, war nahe dran, auf die Bühne zu stürzen, um Marie-Thérèse vom Flügel wegzuzerren. Unerträglich war die Musik, unerträglich die Gewißheit, mit diesem unmenschlichen Diener der Kirche in einen Raum gepfercht zu sein. Mir brach der Schweiß aus, ein Zittern überkam mich. Die Musik zog sich dahin, wurde zu allem Unglück auch noch langsam. Während alle anderen Besucher die Süße dieser elften, im Kanon eingeleiteten Variation genossen, schob sie sich für mich mit grausamer Bedächtigkeit dahin. Und statt mich der geschenkten Zeit der Musik hinzugeben und mich verklären zu lassen, platzten die Bilder und Worte in meinem Kopf auf wie überreifes und zu Boden fallendes Obst:
    Da war die kahle Stube und die Waschschüssel mit dem rotweiß karierten Handtuch auf den vergrauten Dielen. Wie eine goldene Riesenfahne flutete draußen das Herbstlicht durch die Welt, aber weil Juliettes Fenster gen Osten zeigte, blieb uns beiden nur das kalte übertriebene Blau des Himmels. Die Wehen waren schwächer geworden, Juliette aber lag da wie tot: die Augen still und unbewegt, der Mund offen, das kalkweiße, schweißnasse Gesicht bereits spitz.
    Ich kniete neben ihr, die Knie wund, steif, übernächtigt. Anfangs hatte ich die Hebamme verflucht, die den Gebärstuhl mittags wieder mitgenommen hatte, darauf Onkel Jean, der vorschlug, das Balg zu zerstückeln, dann Juliette, die den Onkel fortgeschrien hatte, als sei ihr der Leibhaftige erschienen.
    Ich betete ohne Worte, bis ich die Haustür in den Angeln quietschen und die Frau des dicken Albert sagen hörte: „Hochwürden, es ist höchste Zeit.“
    In meinem Kopf spreizte sich das Wort „Hochwürden“ auf wie ein Fächer, während Marie-Thérèse es zur gleichen Zeit mit den Trillern von Mozarts zwölfter Variation verspottete.
    „Es ist eine Schande, ihre Schande.“
    Nur ich hatte die bösen Worte gehört. Juliette reichten die Schritte und die Hoffnung, dass man ihr endlich den Bastard vergab, der seit Stunden versuchte, sich mit dem Steiß aus ihr zu bohren. Da war das glückliche Lächeln auf ihrem Gesicht, ihre Worte: „Wenigstens sterbe ich in Frieden.“ Doch wie um sie zu verhöhnen, setzten wieder die Wehen ein. In Juliettes gequältes Aufstöhnen mischte sich das Rauschen der Soutane. Der Blankschädel des Abbés beugte sich über sie. Sein Gesicht über dem Juliettes glich einer Fastnachtsmaske, die an ein schwarz schillerndes Gewand genäht war.
    „Der Vater, Juliette.“
    „Nein.“
    „Wer ist der Vater!“
    „Nein!“
    Juliettes Schreien ging in einen Weinkrampf über. Als die gräßlichen Hechellaute begannen, das wahnsinnige Gurgeln und

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