Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
waren es nur Fliegen, aber Esquirol schien die Rolle, den Verrückten zu mimen, zu gefallen. »Sagen Sie, welche Besserungsmittel konkret praktischer Art befürwortet Monsieur Collard bei Ihnen in Charenton? Für die schweren Fälle?«
Esquirol fragte derart sarkastisch, dass ich mir die Antwort ersparen konnte. Natürlich kam auch ich nicht ohne Zwangsjacke aus! So sehr ich sie auch hasste, manchmal hatte selbst ich keine andere Wahl. Bei schweren Tobsuchtsanfällen, wenn einer der Pensionäre im Begriff war, sich Schädel und Knochen in der Zelle zu zerschlagen, musste ich die beiden Titanen rufen: barmherzige Brüder mit kolossaler Körperkraft, die bislang noch jeden Tobenden klein gekriegt hatten. Trotzdem war ich jedesmal aufs neue bestürzt, wie entwürdigt ein Mensch aussah, wenn er quasi seiner Arme beraubt war. An den Leib gepresst und übereinandergelegt, glichen sie unter dem grauen harten Leinen wurstähnlichen Schwellkörpern, bei denen die zu Fäusten geballten Hände in verlederten Schnürtaschen steckten. Nach spätestens einer halben Stunde war jeder gleichgewichtsgestört. Um der zunehmenden Taubheit, die die Arme befiel, entgegenzuwirken, wälzten sich dann viele auf dem Boden, wo sie sich Quetschungen und schwere Blutergüsse zuzogen. Selbst Finger und Handwurzelbrüche waren nichts Ungewöhnliches.
Marie Bonet aber war von zarter Konstitution. Die Zwangsjacke würde sie umbringen.
»Madame Bonet wird essen«, sagte ich fest. »Lassen Sie mich zu ihr. So wahr ich in Charenton der Mann mit dem weichen Herzen genannt werde, ich werde ihr so zureden, dass sie isst.«
»Probieren Sie es! Hätte ich Ihren wunderbar psychoiden Blick, würde ich ebenfalls auf Zureden setzen. Ein bisschen Suggestion kann bestimmt nicht schaden. Deshalb wohl gehen Sie in Charenton als weichherzig durch, wie?«
Trotz des unüberhörbaren Spotts erging sich Esquirol in einer großzügigen Geste. Ich glaube, seine beste Eigenschaft war seine Dünkellosigkeit. Er schien tatsächlich bereit, mich, einen unbekannten Provinzdoktor, als Kollegen zu akzeptieren. Andererseits hatte Esquirol wohl so seine Hintergedanken und agierte damals auch als kluger Karrierist. Warum sollte er sich mit mir einen Gegner schaffen, wo er sich doch mit Ambitionen trug, Charenton zu einem Musterhospitz zu machen? Prior de Coulmier war alt, Chefarzt Roger Collard ein Trinker, die Salpêtrière aber allein aufgrund ihrer Größe ein Moloch. Sie beherbergte circa zweieinhalbtausend Patienten, Charenton als kirchliche Privatklinik, wenn es hoch kam, zweihundertfünfzig. Von der Salpêtrière wegzukommen war also schlicht gesagt nicht das Schlechteste – selbst wenn Esquirol damit gewissermaßen Philipp Pinel verriet vermutlich stillschweigend annahm, dass Esquirol seine Nachfolge antrat.
Auf eitle Weise glücklich war ich damals, weil es mir tatsächlich gelang, Marie Bonet zum Essen zu bewegen. Wie dies konkret geschah, werde ich noch darlegen, aber jetzt möchte ich erst schildern, wie ich mir die Momente in der Salpêtrière vorstelle, in denen Monsieur Esquirol mit meinem Erfolg konfrontiert wurde.
Gute zwölf Stunden nach dem Gespräch mit mir sehe ich ihn am Sonntagvormittag vor dem Fenster seines Büros stehen. Übernächtigt starrt er auf die Allee, die auf das Hôpital zuläuft. Irgendwann stutzt er: Da unten – ist das nicht diese Bonet? Sie schleppt sich am Arm ihres Pflegers über das Pflaster und zeigt auf eine der gerade frei gewordenen Bänke. Langsam, als wollte sie jeden Schritt auskosten, setzt sie einen Fuß vor den anderen, dann macht sie sich los und geht das letzte Stück allein. Als sie sich auf die Bank niederlässt, lächelt sie, ganz so wie jeder Mensch, wenn er über seine Schwäche triumphiert.
Esquirol schaut wie elektrisiert. Hat diese Bonet etwa gegessen und dieser Petrus mit seiner Suggestion Erfolg gehabt? Die Neugier packt ihn - doch auch seine Eitelkeit regt sich. Wer bin ich, denkt er, und wer dieser kleine Arzt aus Charenton? Nein, beruhigt er sich schließlich. Bestimmt hat Raoul ihr Schlüssel und Trichter verabreicht. Vielleicht auch ein wenig gedroht.
Ich sehe zwei Klepper vor mir, die jeweils einen Karren über das Pflaster ziehen. Als Esquirol versucht, die Schrift auf den darauf transportierten Weinfässern zu lesen, beginnt ihm der Magen zu knurren. Da weiß er, dass diese Bonet gegessen hat. Vielleicht ist er erleichtert, vielleicht aber auch schockiert.
Als er am nächsten Morgen den Pfleger
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