Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
gerade wurde mir ein wenig wunderlich zumute bei der Vorstellung, meine Tochter zwar heute zu umarmen, ihr aber morgen eröffnen zu müssen: ‚Kind, im neuen Jahr wirst du dich als Magd verdingen müssen.‘ Denn Kredit bleibt Kredit. Womit ich andeuten möchte: Die viertausend Franc Zinsen, die Monsieur Boissieu dafür im Monat kassiert, sind alles andere als ein Pappenstiel! Wenn ich mir dann vor Augen halte, dass ein gustabler Cognac nicht mehr als fünf Francs kostet …«
»… oder ein Arbeiter mit viertausend Franc zwei Jahre lang seine Familie ernähren muss …«
Auch ich wollte mein Scherflein dazu beitragen, die sich wieder entkrampfende Atmosphäre zu stabilisieren. Dank meiner Stimme und meines Blicks gelang mir dies auch. Natürlich war ich neugierig geworden. Wie mochte Hélène aussehen? Wie alt war sie? Ich versuchte, mir ein Bild von ihr, der Comtesse de Carnoth, zu machen, wobei ich zugebe, dass mich die arrogante, wenn auch geistreich-witzige Art des Comtes längst zu ihren Ungunsten aufgestachelt hatte. So war ich davon überzeugt, dass man sie, wenn sie ihrem Vater nachkam, kaum eine Schönheit nennen würde – auch ohne Warze und ohne Glatze. Ich brauchte den Compte, der neben mir ging, kaum anzusehen, um vor meinem inneren Auge weibliche Karikaturen entstehen zu lassen. Er reizte mich allein durch seine Ausstrahlung. Und wie ich zu meinem Erstaunen feststellen musste, erwies sich diese sogar stärker als als die Verlockungen der mit Gold und Maroquinleder eingebundenen Speisekarte des Rocher de Cancale, in der wir wenig später blätterten. Wie um mich selbst zu befreien, ging ich zum Angriff über und sprach ihn auf meine Pläne an.
»Ich habe Ihnen noch gar nicht verraten, dass ich heute morgen beabsichtigte, Sie zu besuchen, Graf. Vielleicht ist dies nicht der richtige Ort und vor allem nicht die richtige Zeit, aber eines wüßte ich gern: Ist Bankier Boissieu ein umgänglicher Mensch? Oder ist er mehr ein Hai seines Gewerbes? Ich frage Sie, weil ich mit dem Gedanken spiele, eine Praxis zu eröffnen.«
»Monsieur Petrus, er wird Ihnen aus der Hand fressen und sich gleich noch beteiligen. Zögern Sie nicht.«
»Sehr ermutigend. Danke.«
Comte de Carnoth war abgelenkt. Am Nebentisch spielte sich ein ergötzliche Szene ab: Ein englischer Offizier, der mit seinem Freund gekommen war, wollte sich mit seinen Sprachkenntnissen brüsten. Und so verlangte er lauthals „la charte“ statt „la carte“. „Monsieur garçon“ indes glaubte, sich entsprechend konservativ verhalten zu müssen, und lehnte brüsk ab: In diesem Haus sei „la charte“ kein Thema. Dieses Dokument einer Verfassung, oder besser gesagt, vermeintlichen politischen Gerechtigkeit sei nur etwas für die ewig gestrigen Revolutionäre und Königsverächter - Personen, die in diesem Restaurant nicht speisten. Beifall brandete auf, doch der englische Offizier ließ sich nicht beirren. Noch einmal raffte er sein Französisch zusammen und beharrte darauf, ob König oder Revolutionäre, das Rocher de Cancale sei der richtige Ort, sich „la charte“ geben zu lassen.
Auch ich lachte. Hilfesuchend blickte sich der Offizier um, doch zum Glück erbarmte sich der „Monsieur garçon“ und brachte zwei Speisekarten. „Monsieur“, sagte er steif, „s`appelle la carte et non pas la charte. Monsieur, es heisst la carte und nicht la charte.“
Konsterniert starrten der Offizier und sein Freund auf die Karten, die sie kaum noch die Kraft hatten aufzuschlagen. Doch da erhob sich der Comte und rief dem Kellner nach, vier Gläser Champagner zu bringen. In radebrechendem Englisch stellte er sich dem Offizier vor und bat: „Forget the stupid and silly garçon, please.“ Der Offizier schaute wie verzückt. Als er und sein Freund mit dem Comte und mir dann auf das Wohl der beiden großen Nationen anstießen, war es so still, dass nur das Gläserklingen zu hören war.
»Bravo!«
Monsieur Cherubini, Direktor des Conservatoire, applaudierte unserer Verbrüderung mit der Begeisterung eines Italieners, der einst selbst mehrere Monate in London verbracht hatte. Die übrigen Gäste hielten sich mit Beifallsbekunden zurück, was natürlich seit der Schlacht bei Waterloo verständlich war. Mich jedoch brachte Cherubini auf andere Gedanken als die der Politik. Das Conservatoire kam mir in den Sinn, das Konzert – und, natürlich: Marie-Thérèse. Entgegen all meinen Vorsätzen sehnte ich mich plötzlich nach ihr, ihren Händen, ihren
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