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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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suchenden Blicken, ihrer Schönheit.
    Konnte ich das wirklich alles preisgeben?
    Ich hatte Glück. Marie-Thérèse gehörte vielleicht zu den kapriziösen Charakteren, nachtragend aber war sie nicht – was sie bewies, indem sie mir schrieb. Madame Berchod, die neue Concierge, eine schwindsüchtige und verzweifelt lächelnde Burgunderin mit vollgestopftem Schürzensack, servierte mir ihren Brief auf einem Holztablett mit Häkeldeckchen.
    »Er duftet sogar, Monsieur Cocquéreau! Und dick ist er auch. Ich habe noch nie einen so dicken Brief gesehen. Da brauchen Sie ja eine Stunde, um das alles zu lesen. Ach, das schafft eben nur die Liebe. Ich beneide Sie.«
    Madame Berchod zog sich die Schürze vor den Mund und hustete. Ich schwankte zwischen Mitleid und Verärgerung, denn ob Schwindsucht hin oder her: Diese Concierge schien nicht minder geschwätzig und neugierig zu sein wie Madame Rousseau. Schließlich siegte meine Gutmütigkeit. Ich klärte Madame Berchod auf, dass der Brief deshalb so dick sei, weil er wahrscheinlich aus einem einzigen riesigen Bogen bestünde.
    »Und die Absenderin, Madame, wird ihn mit nur wenigen Worten beschrieben haben. Und zwar darum, weil sie fast blind ist. Zufrieden?«
    Madame Berchod leuchtete die Antwort ein und war geneigt, mir zu glauben. Was mich wiederum veranlaßte, mich nach Madame Rousseau zu erkundigen: Warum sie eigentlich nicht mehr als Concierge arbeite? Nun gut, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Denn als Madame Berchod mir vom Unfall ihrer Vorgängerin berichtete, schob ich das ungute Gefühl, das mich überkam, schnell beiseite und fragte auch nicht, ob und wo ich Madame Rousseau besuchen könne.
    »Lieben Sie denn die Dame?«
    Madame Berchod bekam einen so schweren Hustenanfall, dass sie sich abwandte. Ich hielt sie an den Schultern fest und wartete, bis sie wieder Luft bekam.
    »Kommen Sie. Ich gebe Ihnen ein paar Tropfen Laudanum.«
    »Wenn Sie meinen. Aber der Schlaf kommt noch früh genug.«
    »So sollten Sie nicht reden, Madame Berchod.«
    Ich bat die Concierge in mein Wohnzimmer und bereitete vor ihren Augen die Opiumtinktur zu.
    »Wie? In Kaffee?«
    »Warum nicht? Prinz Eugen hat es den Türken abgeschaut. Ihrem Maslach, wie sie es nannten, war allerdings auch noch etwas Ambra beigemischt. Ich nehme stattdessen Zimt und verspreche Ihnen: Sie werden nicht nur wie die Türkenkrieger neuen Mut schöpfen, sondern auch Ihren Husten vergessen.«
    Ich servierte der Concierge dieses „L`eau héroïque“ in einer Mokkatasse und schaute ihr tief in die Augen. Sie seufzte angesichts dieser Zuwendung wohlig auf und schlürfte die lauwarme Mixtur mit derselben Andacht wie einen heißen Kräutertee, den eine Mutter ihrem Kind ans Bett bringt.
    »Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch, Monsieur Cocquéreau. Aber warum starren Sie mich so an? Glauben Sie, mich damit gesund machen zu können?«
    »Wenn ich es könnte, wäre ich reicher als alle indischen Maharadschas.«
    »Das stimmt.« Schnell stellte ich fest, dass Madame Berchod zu den nicht-suggestiblen Subjekten zählte. Ihre Augen blieben unbewegt und wach, ihr Atem gleichmäßig. »Ihre blinde Geliebte, Monsieur Cocquéreau …«
    »Sie ist nicht meine Geliebte.«
    »So?«
    Madame Berchod schaute mich prüfend über den Rand ihrer Tasse an.
    »Sie schwindeln«, sagte sie lächelnd. »Das macht aber nichts. Wichtig ist allein: Sie müssen Ihre Herzensdame lieben! Das ist Pflicht. Alles andere ist zweitrangig. Vergessen Sie nie: Eine Frau, die nicht geliebt wird, hat kein Leben. Sie kennt nur zwei Jahreszeiten: einen kurzen Frühling und einen hundertfach längeren Winter.«
    Diese Worte gingen mir in den folgenden Stunden nicht aus dem Kopf. Ich bin ja bereit zu lieben, antwortete ich Madame Berchod in Gedanken, als ich mich zu Marie-Thérèse auf den Weg machte. Aber was jene Herzensdame betrifft, da sage ich Ihnen ehrlich: Eine Künstlerin wie sie zu lieben ist einfach. Daran nicht zu leiden dagegen äußerst schwierig. Denn die süße Hoff-nung, dass sie mich lieben könnte, ist mit der ständigen Pein verknüpft, dass sie gleichzeitig auch andere lieben könnte. Mein Herz jedoch, Madame Berchod, ruht wie in Brennesseln. Es will nicht enttäuscht werden.
    Was den Umfang des Briefes betraf, hatte ich übrigens richtig gelegen: Marie-Thérèse brauchte viel Papier, machte aber wenig Worte. Mit ihrer ungleichen Strichstärke wirkten die fingerlangen Buchstaben wie Schraffuren sturmgepeitschter Bäume. Zum rechten Rand

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