Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
verstandesscharf, wie sie gesprochen hatte, musste ich sie verdächtigen, ihre mütterlichen Gefühle bewußt auf mich, den erwachsenen Mann, zu lenken, um das Kind, das in ihr heranwuchs, zu verdrängen.
»Marie, als Reh, das auf den weiten Lichtungen seiner Phantasmagorien äst, gefallen Sie mir besser. Ich biete Ihnen einen Ausflug an. Wollen Sie? Einmal schilderten Sie, wie Sie am Webstuhl der Zukunft saßen und erfühlten dabei die Katastrophe der Esther Soulé. Was enthüllen Sie mir jetzt?«
Bereitwillig ging Marie Bonet auf meinen Wunsch ein. Ich ließ sie ein Knäuel Garn entspinnen, eine Art Ariadne-Faden, an dem sie sich während ihrer Trance orientieren sollte. Wo immer sie und ich Bilder und Erlebnisse teilten, sollte sie einen Knoten machen. Und wenn sie am Beginn unseres gemeinsamen Weges angelangt sei, auf meiner Chaiselongue in Charenton, solle sie sich den Faden um den Leib wickeln.
»Sie wissen ja, ich stand über Sie gebeugt und fühlte Ihnen den Puls. Wenn Sie Lust haben, springen Sie einfach in meinen Blick hinein. Es kann nichts passieren, Sie sind ja mit dem Faden bis in die Gegenwart angeseilt und können jederzeit die Hand ausstrecken und die Knötchen fühlen.«
»Ich springe.«
»Und?«
»Es funktioniert nicht. Wie auch! Ich kann Sie fühlen, Sie riechen und hören, aber eine Hellseherin bin ich nicht.«
»Dann kommen Sie zurück.«
»Schon geschehen, ich bin in meinem Schlafzimmer …«
»Marie, ich will es nicht hören.«
»Gut. Wohin jetzt?«
»Nehmen Sie doch den Faden und werfen ihn dorthin, wo er sich mit Ihnen verbindet: in Ihren Bauch.«
»Niemals.«
Die Stimme des Wolfs, der bereit ist zu reißen! Keine Sekunde währte dieser Klang der tödlichen Aggression, doch mich überkam ein Schaudern. Ich fühlte mich wie ertappt, kam mir vor wie ein naiver Samariter, der blitzartig erkennen musste, dass seine Samariterdienste eines Tages in einem Verhängnis gipfelten. Mochte Marie Bonet auch die Augen Juliettes haben, so abschätzig und hart, so gefühllos und seelisch verneinend hatte Juliette nie geklungen.
»Dann kehren Sie zurück.«
Ich bot all meine Kraft und Konzentration auf, damit meine Stimme nicht ihren Gleichmut verlor. Marie Bonet hingegen brauchte nur einen kurzen Moment, um zu sich zu kommen. Der Ausflug schien spurlos an ihr vorüber gegangen zu sein. Genüßlich zerbiß sie eines ihrer Plätzchen, beschaute es sich und roch daran.
»Jetzt habe ich Sie enttäuscht?«
»Ich möchte nicht lügen. Sie klangen sehr böse, Marie …«
Marie Bonet schaute wieder mit Rehaugen: unschuldig, ängstlich, nicht verstehend. Sie wich meinem Blick aus und streichelte ihren Bauch mit der Gebärde der erwartungsfreudigen und vor allem liebenden Mutter. Ja, bestätigte sie flüsternd und mit hängendem Kopf, sie sei unwillig gewesen. Weil sie Angst vor dem Ariadne-Faden bekommen habe, Angst davor, dass er sich um die Nabelschnur ihres Kindes wickeln und es strangulieren könne.
»Sie müssen wissen, wieviel Ehrlichkeit Sie vertragen, Marie«, sagte ich so sanft wie sibyllinisch.
»Glauben Sie mir«, flüsterte Marie Bonet. »Mit dem Faden der Ariadne findet Theseus zwar aus dem Labyrinth wieder heraus, aber bekam der Minotauros, den er dort besiegte, nicht zuvor Jahr für Jahr je sieben athenische Knaben und Mädchen zum Fraß? Daran musste ich denken, Petrus! An die vom Minotauros getöteten Kinder! Auf der einen Seiten stehen Ariadne und Theseus, auf der anderen der kinderfressende Minotauros, der Tod.«
»Marie, ich stimme Ihnen zu, aber als ich Ihnen vorschlug, am Faden der Ariadne in den eigenen Bauch hinabzusteigen, zu Ihrem Kind, da klangen Sie genau wie der kinderfressende Minotauros.«
»Gott steh mir bei! Nein! Niemals!« Die Irritation war echt. Entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund, die Augen vor Schreck geweitet, das Gesicht blutleer. Augenblicklich hatte sie begriffen, worauf ich anspielte: dass ich sie verdächtigte, selbst ein Minotauros zu sein, der in der Trance für einen winzigen Augenblick zu erkennen gegeben hatte, möglicherweise das eigene Kind zu verspeisen. »Wissen Sie, es ist so«, fuhr Marie Bonet leise fort: »Ich wusste in der Trance plötzlich, dass am Ende des Fadens der Tod wartet. Warum, kann ich nicht sagen. Trotzdem kam mir blitzartig der Gedanke, dass ich ihm begegnen würde, stiege ich bis ins Zentrum meines Leibes ab.«
»Das ist in der Tat eine beunruhigende Vorstellung.«
»Eben. Denn in Trance ist alles möglich.
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