Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Ich hatte Angst vor seinem Gesicht, dem Gesicht des Todes, wissen Sie? Vor seinem Geruch! Vor allem davor! Denn in der Trance ist es anders als im Traum. Da träumt man schon mal, man sei tot und liege ihm Sarg. Ich grause mich dann immer vor dem Leichengeruch, vor dem Odeur der Verwesung. In der Trance aber kann ich all diesem Realen nicht ausweichen. Also musste ich flüchten und nein sagen. Dabei ist es im täglichen Leben so, dass mich Freund Hein nicht schreckt. Ich mag ihn fast. Ich stelle ihn mir wie eine Art Schatten vor, mit dem ich von Geburt an verbunden bin. Er hängt an mir an einer unsichtbaren Leine und wirft mal ein Auge auf mich, mal nicht. Die Leine nun ist in der Jugend länger, im Alter kürzer. Wenn dann dereinst mein Stündlein schlägt, wickelt Freund Hein gemütlich die Leine auf, wickelt mich in seinen Schatten und trägt mich aus der Welt. Manchmal glaube ich, ihn zu sehen, aber er ist immer schneller als ich und weiß sich zu verstecken. Ihm genügt ein fallendes Blatt oder ein Tautropfen, und wenn er direkt hinter mir steht und ich mich umdrehe, duckt er sich so blitzschnell, dass ich ins Leere schaue.«
Ich werde diese Worte nie vergessen. Hatte Marie Bonet mir zum Abschied noch bildkräftig geraten, meine Sorgen in einen großen Sarg einzuschließen und diesen an der tiefsten Stelle des Meeres zu versenken, wäre ich am nächsten Tag am liebsten selbst in einen solchen Sarg geklettert, um auf Nimmerwiedersehen von der Erdoberfläche zu verschwinden.
Ich war gerade damit beschäftigt, einen Entschuldigungsbrief zu formulieren, als mich Hippolyte, der erste Hausdiener des Comtes, aufsuchte. Die Situation konnte kaum theatralischer sein: Ein blasierter Diener traf einen Briefschreiber an, der in hoffnungsfrohen Empfindungen schwelgte, weil er sich ausmalte, wie schön es wäre, wenn die Geliebte ihm verzieh. Lächelnd kam ich mit der Feder in der Hand an die Wohnungstür, wo ich knapp und schonungslos über den – wie Hippolyte formulierte – „Freitod der Comtesse de Carnoth“ in Kenntnis gesetzt wurde.
Ich selbst hörte nicht, dass ich aufschrie, wohl aber die Concierge.
»Um des lieben Himmels willen! Was ist mit Ihnen?«
Madame Berchod, die es sich nicht hatte nehmen lassen, den obersten gräflichen Bediensteten vor die Wohnungstür zu begleiten, hastete die Treppe wieder hoch und drohte dem Hiobsboten mit der Faust. Die Aufregung aber brachte ihr nur einen Hustenanfall, doch als er vorüber war, spuckte sie nicht wie üblich in eines ihrer Schürzentücher, sondern schlicht auf den Boden. Der Hausdiener sah es, verdrehte angewidert die Augen und empfahl sich grußlos.
Madame Berchod! Die Stimme ihres Herzens trog nicht: Dieses war der Moment, wo ich sie wirklich brauchte. Und sie war der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen konnte. „Die Liebe, Monsieur Cocquéreau!“ rief sie. „Die Liebe. Ah, sie ist bitter. Aber weinen Sie nicht. Ich helfe Ihnen!“ Dabei weinte ich gar nicht, sondern kauerte, den Brief des Comtes in der Hand, vor meinem Sekretär. Ich war so verzweifelt und erschöpft, dass mir der Brief aus den Fingern rutschte. Bestimmt wäre ich vornüber gekippt, hätte Madame Berchod mich nicht an den Schultern gepackt und festgehalten. Minutenlang stand sie hinter mir und starrte auf das gräfliche Wappen und die erlauchten Schriftzüge. Denn ihre Fürsorge war das eine und ihre Neugier das andere.
Der Comte hatte nur wenig Worte gemacht. Wenigstens war er so charakterfest gewesen, mich nicht allein verantwortlich zu machen: Alle, resümierte er, trügen Schuld an diesem „tödlichen Desaster“: „Hélène stolperte über ihre zu großen Füße und ihre noch größeren Sehnsüchte, ich über meinen menschenfeindlichen Ästhetizismus, Sie über Ihre suggestive und fahrlässige Gabe.Vonnöten ist jetzt Abstand und innere Einkehr. Wir beide werden es beim zweiten nicht fehlen lassen, aber auch das erstere zu wahren wissen.“
Madame Berchod las die Nachricht wohl ein halbes Dutzend Mal, bis sich ihr die tragischen Dimensionen, in die ich verwickelt war, voll erschlossen. Schließlich aber brach sie in eine geradezu jacobinisch heftige Tirade gegen die Arroganz des Adels aus und schalt Hélène eine dumme Göre.
»Wegen zu großer Füße und einer unerfüllten Liebe den Tod zu sich, nein, Monsieur Cocquéreau, da kann ich kein Mitleid haben. So ein Ding! Ist reich an Geld wie die Bettler an Läusen und trägt dazu einen Namen, der, leider muss man es sagen,
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