Der Idiot
eine Equipage wartete.
Der Fürst hatte »sie« schon seit mehr als drei Monaten nicht
gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag
vorgenommen, zu ihr zu gehen; aber vielleicht hatte ihn eine geheime
Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er
schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende
Begegnung mit ihr auf ihn machen werde; aber er bemühte sich manchmal
angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung
peinlich sein werde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die
erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim
bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst
der Eindruck des Bildes war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher
gewesen. Jener Monat in der Provinz, während dessen er beinah täglich
mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung
ausgeübt, derart, daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese
noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem
Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm eine Qual
verursachte: in dem Gespräch mit Rogoschin hatte der Fürst dieses
Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleides bezeichnet, und das war
die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des
Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid
geworden war; dieses Gefühl des Mitleides und sogar des eigenen Leides
um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt
gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck,
den er Rogoschin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die
Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich
vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der
unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoschin gesagt
hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht den Ausdruck
»Entsetzen« angewandt; jawohl, Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick,
war er geradezu von Entsetzen ergriffen; er war auf Grund all seiner
eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß
diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt
liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe
verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter
einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die
Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst
durchmachte.
»Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte.
Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre
schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen Weise
funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, wie
wenn er sie sofort wieder vergessen hätte, wandte er die Augen wieder
nach rechts und verfolgte die ihn so fesselnde Erscheinung weiter.
Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen
vorüber. Jewgeni Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl
sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und
lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal
halblaut gesagt hatte: »Was für eine ...«
Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den
Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts
weiter hinzu; aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna,
die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war,
wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und
schien erst jetzt Jewgeni Pawlowitsch zu bemerken.
»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn
durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal
sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet ... Ich dachte ja, du
wärst dort ... bei deinem Onkel!«
Jewgeni Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.
»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er
weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein
Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt; aber jetzt
weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel
Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere aber sagen:
fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch
eine große Erbschaft hinterlassen werde; aber
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