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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den
Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.
    »Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«
    Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten
einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr;
aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und
kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas
halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon
erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit
offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte
vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht
aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.
    »Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna
wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon lange nicht mehr darauf zu
hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht
mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt
... in Twer?«
    »Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.
    »Jawohl; aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben,
sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zum General gewendet, der Fürst
schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört ...«
    »Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine
Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tod stattgefunden, noch
bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals
noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die
Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, wiewohl er
ein ganz vorzüglicher Mensch war.«
    »Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«
    »Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tod Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbett ...«
    »Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst
wieder, »wiewohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches
Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett
gestorben.«
    »Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«
    »So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.
    »Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging dann
auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz
unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle
Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und
dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten
übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er
entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der
Fürst (notabene, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals)
macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen.
Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche
und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich; aber doch ein
unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte,
Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde
Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich
gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr später, bei der
Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt
nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des
Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu
derselben Division gehörte wie unser Regiment!«
    »Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.
    »Es verhält sich nicht so; das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina
Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn ordentlich kummervoll
ansah. »Mon mari se trompe.«
    »Aber liebe Frau, ›se trompe‹, das ist leicht gesagt; aber kläre du
doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf
geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe.
Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte
zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen,
daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein
halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel
beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast

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