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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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ich ihn wiedersehe. Doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Ich tanze nicht mehr. Ich sehe nur noch genau hin. Und wenn der Mensch dann fortgegangen ist, ist er wieder tot.«
    Clemens lachte. »Das liegt einfach daran, daß dein Verstand auf einem primitiven Niveau arbeitet. Du findest kein rechtes Verhältnis zu den Dingen. Du hast keine Phantasie, Hitchcock, du mußt lernen, dich innerlich an den Dingen festzuhalten.«
    »Warum sollte ich mich an etwas binden, das ich nicht benutzen kann?« fragte Hitchcock mit großen Augen, immer noch in den Weltraum hinausstarrend. »Ich bin nur praktisch. Wenn die Erde für mich nicht da ist, so daß ich auf ihr gehen kann, soll ich dann vielleicht auf einer Erinnerung gehen? Das tut weh! Erinnerungen, hat mein Vater einmal gesagt, sind Stachelschweine. Zur Hölle mit ihnen! Halte sie dir vom Leibe. Sie machen dich unglücklich.«
    »Gerade jetzt, in diesem Augenblick, gehe ich auf der Erde spazieren«, sagte Clemens, in sich hineinlächelnd, Luftschlösser bauend.
    »Du spielst mit Stachelschweinen. Nachher wirst du beim Essen keinen Bissen hinunterbringen und dich wundern, wieso«, sagte Hitchcock mit tonloser Stimme. »Und das nur, weil ein Bündel Stacheln in dir brennt. Zur Hölle damit! Was ich nicht zwicken, puffen, trinken oder betreten kann, magst du getrost in die Sonne werfen. Für die Erde bin ich tot, also ist sie für mich tot. Niemand weint heute nacht in New York für mich. New York kann mir gestohlen bleiben. Hier gibt es keine Jahreszeiten; Winter und Sommer gehören der Vergessenheit an; Frühling und Herbst ebenfalls. Es gibt keinen bestimmten Abend oder Morgen; nur Weite und abermals Weite. Im Augenblick existieren nur du und ich und dieses Raumschiff hier. Und wirklich überzeugt bin ich eigentlich nur von meiner Existenz. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«
    Clemens achtete nicht auf seine Worte. »Und jetzt stecke ich einen Nickel in den Münzfernsprecher«, sagte er, während er mit behaglichem Lächeln eine entsprechende Handbewegung vorführte. »Ich telephoniere gerade mit meinem Mädchen in Evanston. Hallo, Barbara!«
    Das Schiff glitt weiter durch den Weltraum.
    Um 13.05 läutete die Glocke zum Mittagessen. Auf weichen Gummisohlen liefen die Männer vorbei und setzten sich an die gedeckten Tische. Clemens war nicht hungrig.
    »Siehst du, was habe ich dir gesagt!« meinte Hitchcock. »Du und deine verdammten Stachelschweine! Halt sie dir vom Leibe, wie ich es dir geraten habe. Sieh mich an, wie ich schlemme.« Die letzten Worte sprach er mit mechanischer, unbewegter und humorloser Stimme. »Sieh mir zu.« Er steckte sich ein großes Stück Pastete in den Mund und befühlte es mit der Zunge. Er betrachtete die Pastete auf seinem Teller, als wolle er ihre Struktur ergründen. Er schob sie mit seiner Gabel hin und her. Er betastete den Gabelgriff. Er zerdrückte die Zitronenfüllung und beobachtete, wie der Saft zwischen den Zinken emporquoll. Dann befühlte er eine Flasche mit Milch von oben bis unten und lauschte auf das Geräusch, während er sich ein Halbliterglas vollgoß. Er trank die Milch so rasch, daß er sie kaum geschmeckt haben konnte. Sein ganzes Essen hatte er in wenigen Minuten verzehrt, fieberhaft in sich hineingeschlungen; jetzt sah er sich nach mehr um, doch es gab nichts mehr. Mit unbewegtem Gesicht starrte er durch eine Luke des Raumschiffes. »Die existieren in Wirklichkeit auch nicht«, sagte er.
    »Wer?« fragte Clemens.
    »Die Sterne. Wer hat schon jemals einen berührt? Gewiß, ich kann sie sehen, aber was bedeutet das schon, daß man etwas sehen kann, das eine Million oder eine Milliarde Meilen entfernt ist? So entfernte Dinge sind es überhaupt nicht wert, daß man sich Gedanken über sie macht.«
    »Warum bist du auf diese Reise mitgekommen?« fragte Clemens plötzlich.
    Hitchcock sah in sein leeres Milchglas und schloß fest die Hand darum. »Ich weiß es nicht. Ich mußte es einfach tun, das ist alles. Woher weiß man denn, warum man irgend etwas in diesem Leben tut?«
    »Dir gefiel der Gedanke der Raumfahrt? So von einem Ort zum andern zu ziehen?«
    »Ich weiß nicht. Ja. Nein. Nicht unbekannte Orte haben mich gelockt. Das Treiben dazwischen war es .« Hitchcock versuchte zum ersten Mal, seine Augen auf einen bestimmten Funkt zu zwingen; aber was er erblicken wollte, war so nebelhaft und so fern, daß seine Augen es nicht fassen konnten. »In der Hauptsache war es die Weite. Der grenzenlose Raum. Mir gefiel der

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