Der illustrierte Mann
Warum bekommen bloß die Intellektuellen nie den Blut-Brand und werden zu uns heraufbefördert?«
Der Mann schloß die Augen, zu matt, um sie offen zu halten. »Einst hatte ich die Kraft, ein Intellektueller zu sein. Jetzt bedeutet schon das Denken eine Anstrengung.«
»Wenn wir uns nur unterhalten könnten«, sagte Saul Williams.
Der andere zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
»Komm morgen wieder. Vielleicht habe ich dann genug Kraft, um über Aristoteles zu reden. Ich will's versuchen. Wirklich, ich will's.« Der Mann unter dem verkümmerten Baum schien noch mehr in sich zusammenzusinken. Er öffnete ein Auge. »Du erinnerst dich doch, wie wir einmal über Aristoteles sprachen, vor sechs Monaten, als ich einen guten Tag hatte.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Saul, ohne zuzuhören. Er blickte über das Tote Meer. »Ich wünschte, ich wäre so krank wie du – vielleicht würde es mir dann nichts mehr ausmachen, ein gebildeter Mensch zu sein. Vielleicht würde ich dann ein wenig Frieden finden.«
»In etwa sechs Monaten wird es dir genauso schlecht gehen wie mir«, erwiderte der sterbende Mann. »Dann wirst du dich nach nichts anderem sehnen als nach Schlaf und noch mehr Schlaf.«
Die Stimme des Mannes war zu einem kaum hörbaren Flüstern abgesunken. Jetzt verstummte sie, und nur noch ein flaches Atmen war zu erkennen.
Saul ging fort.
Am Strand des Toten Meeres lagen, wie leere Flaschen, von einer lang verdunsteten Woge an Land geworfen, die zusammengekrümmten Körper schlafender Männer. Saul konnte sie alle sehen, verstreut am geschwungenen Strand der ausgetrockneten See. Eins, zwei, drei – jeder schlief allein für sich, die meisten schlimmer dran als er, jeder bei seinem versteckten kleinen Proviantlager, jeder zu einem Einsiedler geworden, denn die Geselligkeit hatte nachgelassen, und der Schlaf tat gut.
In der ersten Zeit hatten sie sich ein paar Nächte lang um gemeinsame Lagerfeuer versammelt. Und alle hatten sie über die Erde gesprochen. Es war ihr einziges Gesprächsthema.
Ich sehne mich nach der Erde, dachte Saul. Ich sehne mich so sehr, daß es schmerzt. Ich sehne mich nach etwas, das ich nie wieder haben kann. Und alle sehnen sie sich danach, und der unerfüllbare Wunsch tut ihnen weh. Mehr als Essen oder eine Frau oder irgend etwas in der Welt wünsche ich mir die Erde.
Glänzendes Metall blitzte am Himmel auf.
Saul blickte empor.
Wieder blitzte das glänzende Metall.
Eine Minute später war das Raumschiff auf dem Meeresboden gelandet. Die Luftschleuse öffnete sich, und ein Mann kletterte mit seinem Gepäck heraus. Zwei andere Männer in Bazillenschutzanzügen begleiteten ihn, brachten große Kisten mit Nahrungsmitteln heraus und stellten ein Zelt für ihn auf.
Ein paar Minuten später schoß das Raumschiff zurück in den Himmel. Der Verbannte stand allein.
Saul begann zu rennen. Es strengte ihn sehr an, denn er war seit Wochen nicht gelaufen – aber er rannte weiter und rief: »Hallo! Hallo!«
Als Saul angekommen war, musterte der junge Mann ihn von oben bis unten.
»Hallo. Dies ist also der Mars. Ich heiße Leonard Mark.«
»Ich bin Saul Williams.«
Sie schüttelten sich die Hände. Leonard Mark war sehr jung, erst achtzehn Jahre, er hatte blonde Haare, blaue Augen, und sein rosiges Gesicht sah trotz seiner Krankheit ungemein frisch aus.
»Wie sieht's in New York aus?« fragte Saul.
»So«, sagte Leonard Mark. Und dabei blickte er Saul an.
New York wuchs aus der Wüste empor, ein steinernes Häusermeer, durch das Märzwinde strichen. Neonlichter verströmten gleißende Farben. Gelbe Taxis glitten durch eine stille Nacht. Brücken wuchsen auf, und Schlepper tuteten im mitternächtlichen Hafen.
Saul preßte heftig seinen Kopf zwischen die Hände.
»Aufhören! Aufhören!« schrie er. »Was geschieht mit mir? Was ist mit mir los? Werde ich wahnsinnig?«
Blätter sproßten aus den Bäumen im Central Park, grün und frisch. Saul schlenderte auf dem Spazierweg einher und schnupperte die Luft.
»Mach Schluß, mach doch Schluß, du Narr!« schrie Saul sich selbst an. Er preßte die Hände gegen die Stirn. »Das gibt es doch nicht!«
»Doch«, sagte Leonard Mark.
Die Türme von New York verschwammen. Der Mars kehrte zurück. Saul stand auf dem ausgetrockneten Meeresboden und starrte kraftlos den jungen Neuankömmling an.
»Du«, sagte er, die Hand nach Leonard Mark ausstreckend. »Du hast das getan Du hast es mit deinem Verstand gemacht.«
»Ja«, erwiderte
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