Der im Dunkeln wacht - Roman
Anna sich etwas gefasst und über die Sache nachgedacht hatte.
N iklas Johanssons Äußeres entsprach in etwa dem des Phantombilds. Er war 31 Jahre alt und als »arbeitssuchend« registriert. In ihrer Kartei war er gelistet, weil er bei einer vier Jahre zurückliegenden Schlägerei einen Mann ernsthaft mit einem Messer verletzt hatte. Das Opfer hatte monatelang zwischen Leben und Tod geschwebt und schließlich mit bleibenden Schäden überlebt. Niklas Johansson war wegen Mordversuchs zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Eine vergleichsweise milde Strafe, denn Zeugen hatten ausgesagt, dass beide Beteiligten sehr betrunken gewesen seien. Während Niklas von seinem Gegner mit einer Flasche attackiert worden war, hatte er selbst sich mit einem Messer zur Wehr gesetzt. Kurz bevor der andere die Flasche im Handgemenge verlor, gelang ihm noch ein Volltreffer, bei dem er Niklas das Nasenbein brach.
Auf dem Archivbild war Niklas Johansson daher mit einer gegipsten Nasenbeinfraktur zu sehen. Die hellen Augen glotzten von beiden Seiten des großen Verbands ausdruckslos in die Kamera, aber die vollen Wangen und dicken Lippen waren deutlich zu erkennen.
»Das Foto ist vier Jahre alt. Er hat ein paar Jahre gesessen. Wir wissen nicht, wie er heute aussieht«, sagte Jonny.
»Dann werden wir das eben herausfinden«, meinte Irene.
Sie verkniff sich ein Lächeln, als er sich stöhnend erhob. Jonny konnte sich für altmodische Ermittlungen zu Fuß nicht sonderlich begeistern.
Niklas Johansson wohnte in der Smyckegatan in Tynnered. Bevor sie das Präsidium verließen, überprüfte Irene noch einmal die Adresse, die sie bekommen hatten. Während der letzten Monate hatten sich die Nachbarn wiederholte Male über Lärm in der Wohnung beschwert.
Jonny klingelte. Hinter der Wohnungstür dröhnte Hardrock.
»Er hört die Klingel nicht«, meinte Jonny.
Ohne weitere Umschweife drückte er die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Einer Druckwelle gleich schlugen ihm schrille Gitarrenriffs entgegen.
Ein Mann um die dreißig, der ziemlich mitgenommen aussah, trat aus einer Tür in die Diele. Obwohl er sich, seit das Foto für die Kartei vier Jahre zuvor aufgenommen worden war, stark verändert hatte, erkannte ihn Irene an seinen bleichen Augen. Er sah die beiden Beamten in der Tür blinzelnd an und fauchte:
»Verschwindet! Oder soll ich euch Beine machen?«
Er kam mit drohend erhobenen Fäusten auf sie zu. Jonny zeigte ihm seinen Ausweis.
»Immer mit der Ruhe. Wir sind von der Polizei. Können wir einen Augenblick reinkommen und uns mit Ihnen unterhalten?«
Der Mann baute sich vor ihnen auf. Er war etwas kleiner als Jonny, sah ihm aber durchdringend in die Augen.
»Was bilden Sie sich ein?«, brüllte er.
Jetzt nahm Irene seinen Körpergeruch wahr. Er stank nicht nur nach Schnaps, sondern auch ungewaschen. Seine schmuddeligen Kleider stanken nach Urin und anderem. Der Blick seiner farblosen Augen war erschreckend leer und ausdruckslos. Soweit passte alles mit Marie Carlssons Beschreibung des Fischauges zusammen. Sein Körperbau entsprach jedoch gar nicht der Beschreibung. Niklas war mager, fast nur Haut und Knochen. Die Puttenwangen hatten sich in schlaffe Hängebacken verwandelt. Er bewegte sich ruckartig und unkoordiniert. Die
beiden Beamten hatten das schon oft erlebt: Johansson stand unter Drogen.
Jonny stieß Niklas leicht vor die Brust. Die magere Gestalt schwankte und wich ein paar Schritte zurück. Dann stolperte er über einen kaputten Turnschuh und stürzte, ohne sich abzufangen, auf den Rücken.
»Hoppla. Jetzt sind wir ja doch in der Wohnung. Wir müssen schließlich kontrollieren, dass Sie sich nicht verletzt haben«, sagte Jonny mit übertrieben freundlicher Stimme.
»Das hier … ist Rechtsbeugung«, keuchte Johansson nicht sonderlich überzeugend.
»Zeigen Sie uns doch an«, sagte Jonny grinsend.
Er trat vor und half Niklas wieder auf die Beine. Der ehemalige Schläger wirkte kraftlos wie eine Stoffpuppe. Alle Aggression war verschwunden, und er ließ sich ohne weitere Proteste ins Wohnzimmer führen.
Nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte, folgte ihnen Irene. Rasch registrierte sie alles: den Gestank, den Schmutz, das Chaos, die wenigen schadhaften Möbel, den Zigarettenqualm und den jungen Mann, der im Wohnzimmer mit dem Rücken auf dem Teppich lag. Zuerst glaubte Irene, er sei tot, aber bei näherer Betrachtung erkannte sie dann, dass sich sein Brustkorb leicht hob und senkte. Im
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