Der im Dunkeln wacht - Roman
hier über deine Tochter gelesen hättest?, dachte sie. Und was würden ihre Töchter sagen? Aber diese konnten sich noch an den Tod von Sophie erinnern und kannten den größten Teil der Wahrheit. Katarina und Felipe hatten sich im Zuge der Ermittlung kennengelernt, da Felipe Tänzer war und ein guter Freund Frejs gewesen war. Alle drei begeisterten sich für Capoeira, und Katarina
begann Capoeira zu trainieren statt Jiu-Jitsu. Irene war immer noch etwas betrübt, wenn sie daran dachte. Aber es war wohl so, wie Katarina damals gesagt hatte: »Jiu-Jitsu ist dein Ding, nicht meins.«
Kinder wuchsen heran und gingen ihre eigenen Wege. Wir bleiben zurück und wollen, dass alles so bleibt wie früher. Aber die Wahrheit ist, dass alles ständig im Fluss ist, dachte Irene. Glaubte sie etwa, dass alles wieder so werden würde wie früher, wenn sie wieder in die Wohnung einzog, in der sie aufgewachsen war? Nein, ein neuer Lebensabschnitt brach an. Sie beschloss, dass es für Krister und sie gut werden würde. Und für Egon, dachte sie dann, als der Hund auf ihren Schoß hüpfte. Jetzt war es wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.
Irene lag lange da und starrte in die Dunkelheit. Als sie die Augen schloss, sah sie den Text wieder vor sich: »Schlag diese Sau Irene Huss tot!« Und: »Ich fordere Rache für das zerstörte Leben meiner Kinder und mein eigenes zerstörtes Leben!« Mein Gott, wie geht man mit so etwas um?, dachte sie immer wieder.
Du warst so nahe. Wir hätten uns fast berührt. Aber Hunde kann ich nicht ausstehen. Ich hasse Tiere! Sie sind unrein und kommen vom Teufel. Unsere Liebe ist nicht rein, das sehe ich ein. Du sollst keinen Ehebruch begehen. So steht es in der Schrift. Aber nicht ich bin es, der sich versündigt, sondern du, denn du führst mich in Versuchung. Du bist eine hässliche Versucherin. Du willst mich auf Irrwege locken, in das Netz der Versuchung. Du willst mich dazu bringen, das heilige Gebot zu übertreten. Mein Gewissen quält mich. Du wirst meiner Seligkeit gefährlich. Meine reine Liebe ist in Gefahr, besudelt zu werden. Deine unreine Seele muss gerettet werden.
Du musst sterben.
I rene erwachte davon, dass Egon winselte. Er zeigte deutlich, dass er raus musste. Da blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an einem Samstag um halb sieben aus dem Bett zu quälen. Krister schlief tief im Nachbarbett. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, knarzte es besorgniserregend. Die richtigen Betten hierher zu schaffen hatte jetzt höchste Priorität, das spürte Irene im Kreuz und in den Schultern. Aber das konnte nicht geschehen, bevor Angelica nicht lokalisiert war. Gähnend streckte sie sich. Ihre Gelenke knackten. Ihre Lider waren schwer. Wenn sie nachgab, dann würde sie wieder einschlafen. Energisch schwang sie die Beine über die Bettkante und ging ins Badezimmer.
Kurz hielt sie ihr Gesicht unter das kalte Wasser und kleidete sich dann an. Das war ein Nachteil, wenn man in der Stadt wohnte: Man musste ordentlich angekleidet sein, wenn man vor die Tür trat. Selbst frühmorgens, wenn man mit dem Hund raus musste. Die Zeiten, in denen sie in Morgenmantel und Pantoffeln vor die Tür schlappte, waren zu Ende. Sie hatte das zwar auch in der Reihenhaussiedlung nicht sonderlich oft getan, aber es war vorgekommen. Der Regen war im Laufe der Nacht nach Osten weitergezogen. Die Luft war immer noch feucht und kühl, aber der Himmel klar. Eine bleiche Sonne beschien die gelbe Ziegelmauer des Konsum-Supermarkts auf der anderen Straßenseite. Zwischen den Häusern gab es Rasenflächen und große Bäume. Es waren auch einige Felsen stehengeblieben, als man das Viertel in den 50er Jahren gebaut hatte. Auf der Rückseite des Hauses war einem die Natur noch näher. Hier standen die hohen Bäume ganz dicht. Ein paar Bäume, die den Stürmen zum
Opfer gefallen waren, rotteten vor sich hin. Obwohl der Gehweg asphaltiert war, hatte man nicht das Gefühl, durch einen angelegten Park zu gehen, da die Pflanzen wild wuchsen und die Büsche nicht beschnitten wurden. Der Duft von nassem Laub und feuchter Erde verstärkte die Illusion eines Waldspazierganges noch.
Irene schlug den Jackenkragen hoch, da der Morgen kühl war, und ging in Richtung Doktor Fries Torg. Obwohl sie das Viertel schon ihr ganzes Leben lang kannte, sah sie es plötzlich mit anderen Augen. Viel war seit ihrer Kindheit unverändert, aber in letzter Zeit wirkte alles sehr viel grüner. Aus den Bäumen waren in den Jahrzehnten ehrwürdige
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