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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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den Knästen, Psychiatrien, Kasernen und vergleichbaren Kontrollbunkern begnügte sich die anarchistische Widerrede jener Jahre hier nicht mit dem Verlangen nach ersatzloser Abschaffung, sondern setzte allerlei theoretische und praktische Gegenmodelle in die Welt. Über historische Präzedenzen unterrichtet aus den Schriften von Wilhelm Reich, den Protokollen des sozialistischen Kinderheim-Laboratoriums der Sowjetbürgerin Wera Schmidt und diversen reformpädagogischen Berichten und Manifesten vornehmlich aus der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg entstand die Kinderladenbewegung, die ihre eigenen Publikationsplattformen (allerlei Raubdrucke, aber auch selbstgeschaffene Zirkulare, Broschüren, Buchveröffentlichungen, etwa die Reihe Anleitung für eine revolutionäre Erziehung in mehreren Heften, herausgegeben vom Zentralrat der sozialistischen Kinderläden West-Berlin oder Gerhard Botts Lesebuch »Erziehung zum Ungehorsam«) und, im Anschluß an einen von Bott verfaßten NDR-Fernsehfilm, der lärmende Proteste aus dem reaktionären Grummelbauch der Gesellschaft wie der staatstragenden Politik hervorrief, eine erstaunliche mediale Resonanz. Die Kinder sollten jenseits der kleinfamiliären (also para-staatlichen: Die Familie ist eine staatlich lizenzierte Sexual- und Abstammungsgemeinschaft) Reinlichkeitserziehung und der offiziellen wie inoffiziellen Grausamkeiten der explizit staatlichen Disziplinaranstalten ihre eigene Sexualität, ihre eigene Neugier, ihre eigene Sozialisierung erleben dürfen. »Sozialisierung«, Vergesellschaftung, Vergemeinschaftung ist überhaupt das Stichwort: Da sich all diese Versuche, antistaatliche Keimzellen freier Menschwerdung ins Gemeinwesen zu pflanzen, als mehr oder weniger sozialistische verstanden, gingen die Menschen, die sie schufen, davon aus, sich in der Nachfolge des schon von Marx und Engels verfochtenen Kampftheorems von der notwendigen »Sozialisierung« der Erziehung zu befinden – in der Formulierung aus den Grundsätzen des Kommunismus von Engels hieß das, die sozialistische Gesellschaft, für die man eintrat,
    »wird das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einem reinen Privatverhältnis machen, welches nur die beteiligten Personen angeht und worin sich die Gesellschaft nicht zu mischen hat. Sie kann dies, da sie das Privateigentum beseitigt und die Kinder gemeinschaftlich erzieht und dadurch die beiden Grundlagen der bisherigen Ehe, die Abhängigkeit des Weibes vom Mann und der Kinder von den Eltern vermittelst des Privateigentums, vernichtet«. 108
    Nimmt man diese Programmatik aber ernst, zeichnet sich plötzlich ab, woran die Kinderladenbewegung so gut wie jede andere groß- oder kleinbürgerliche (oder gar innerkapitalistisch »proletarische«) reformpädagogische Initiative krankte: Sie griff den Staat und seine Einrichtungen, Staatserziehung, staatlich privilegierte Religionen, staatliche Ehelizenzen an, statt dasjenige, was diesen Staat nährt und dessen Schutz und Verteidigung im Kapitalismus sein einziger Daseinszweck ist: die Eigentumsordnung aus Kapitalbesitz, Lohnarbeit, Ausbeutung, Profit und Markt.
     
    Voraussetzung menschenwürdiger Liebe, unabhängig von Geschlecht und Anzahl derer, die einander lieben, wäre, daß alle, die dieses Einanderbedingen, Einanderdurchdringen betrifft, ihre Lust im Spiegel der Lust der oder des Geliebten erleben. Die Leute, heißt das, sollen kein Machtgefälle, das nicht freiwillig oder spielerisch ist, ertragen müssen, sie sollen einander nicht nötigen, beherrschen, bedrängen. Sie sollen, mit einem Wort, frei sein (das schließt die Freiheit zur Bindung ein, nicht aus). Sollen sie einander aber kaufen können? Die Vorstellung vom freien Individuum, die wir heute denken, ist mit der Emanzipation der Bürger von den vorbürgerlichen Zuständen aufgekommen. Petrarcas geheime Welt im Innern ist Voraussetzung für Shakespeares bedingungslose Hingabe liebender Einzelner an geliebte Einzelne; beide leben vom freien Marktsubjekt, das seine Wahl, von wem es kauft und an wen es verkauft, durch keine blutsmäßigen Fesseln mehr eingeschränkt sieht.
    Aber die Freiheit derer, die kaufen und verkaufen können, wie und wo und von wem und an wen sie wollen, ist durch das begrenzt, was sie haben und nicht haben, da versteht, wie die Wielandstelle zeigt, nicht einmal der linksbürgerliche Rückblick ins antike Goldene Zeitalter, das die ideellen Werte des Bürgers teilte, ohne seine materiellen zu besitzen,

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