Der Implex
immer und überall darum, wie schrecklich das ist, wenn (der Hierarchie, der körperlichen Zurüstung, der Kommunikationssituation nach) Schwache von Starken sexuell oder aggressiv manipuliert werden, aber sehr selten um die andere Seite der Medaille, nämlich die sehr beunruhigende Frage, was den Stärkeren in diesem Schema eigentlich in so großer Zahl daran gefällt, erregt, befriedigt. Wie kann ich ein Sexualobjekt wollen (oder mit Schlägen abwehren müssen), das meine Lust gar nicht wirklich erwidern könnte oder aber – was auf dasselbe hinausläuft – gar keine Wahl hat als die, es eben zu erwidern, ihm aber zumindest dienstbar zu sein?
Die erste Wahl war das Kind für den in der westlich-bürgerlichen Sexualsozialgeschichte den Ton angebenden männlichen Lüstling ja keineswegs immer – am Beginn der Emanzipation dieses Lustjägers von seinen vorbürgerlichen, also sklavenhalterischen, feudalen, ständischen, religiösen und ignoranten Fesseln hatte er es vielmehr auf ein ganz anderes Ideal abgesehen: 1610, auf der langen Startbahn zur europäischen Aufklärung, erschien der für die später im Vergleich mit denen anderer nationalliterarischer Sprachen besonders reiche französische Literatur der Libertinage stilprägende Text Les secrettes ruses d’amour (der schwer zu übersetzende Titel meint auf deutsch so etwas wie »Die geheimen Schliche der Liebe«) und behandelte, da seinerzeit die fiktionale Pornographie und die erotische Lebenshilfe noch keine klar voneinander unterschiedenen Textgenres waren, unter anderem auch die Frage nach der für den Lustgewinn erfolgversprechendsten Objektwahl. Dem Leser nahegelegt wurde nicht die Jungfrau oder der keusche Knabe, sondern die Witwe: Nur bei ihr vereinigten sich, so der anonyme Verfasser, die Vorzüge der ökonomischen Unabhängigkeit mit denen der sexuellen Erfahrung zu jener höchsten Genußfähigkeit, aus welcher wiederum die reichsten Gaben des verschenkten Genusses für den Liebhaber zu ziehen seien. Der Bürger, so scheint es, wollte anfangs ein (durchaus legitimes, nach dem Prinzip des äquivalenten Tausches eingerichtetes) Geschäft machen und brauchte dazu eine Handelspartnerin, die er als Subjekt dieser Transaktion ernst nehmen konnte, weil sie ihr Eigeninteresse in seinem zu spiegeln vermochte. Was hat die späten Nachfahren solcher Händler zu beutegierigen Räubern gemacht?
Sexual predators , also: sexuelle Raubtiere, nennt der angloamerikanische Sprachgebrauch die hierzulande als »Kinderschänder« Geführten; der Tiervergleich (hierzulande in den Boulevardmedien etwa um das Brandzeichen »Bestie« versammelt) ist Kristallisationspunkt einer weitläufigen Metaphorik, zu der etwa auch die Bezeichnung minderjähriger Mädchen als »Jailbait« (Gefängnisköder, denn sich mit ihnen einzulassen ist, auch nach europäischen Rechtsnormen, strafbar) gehört. Die Territorien aber, auf denen solche Täter ihre Opfer finden, sind trotz allem Gerede über Großstadtdschungel einerseits, die hartnäckig bestehende Waldursprünglichkeit ländlicher Provinzzustände andererseits, keine Naturlandschaften, sondern soziale Institutionen. Vom Zusammenhang zwischen Herrschaft und klar umrissenen Gebietsgeltungsansprüchen und Gebäude-Ordnungen von deren Machtausübung, sprich: von der Knastbeschaffenheit jedes Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisses, wußte die im wesentlichen anarchistische oder anarchoide, bei aller Sympathie für die alte Arbeiterbewegung wesentlich kleinbürgerliche Kulturrevolte, die während der sechziger und siebziger Jahre in den reicheren (also nicht ausschließlich den westlichen) Staaten der Welt stattfand, so einiges und setzte deshalb an genau diesem Punkt an: Daß die Kriminalität im Gefängnis erst so richtig zu sich selbst kommt, zur grauenhaften Wirklichkeit ihres Stigmas wie ihrer Praxis, und daß die Klinik und das Irrenhaus in vieler Hinsicht so krank und verrückt machen, wie dies das noch so eingeschränkte und ärmliche Leben auf freier sozialer Wildbahn niemals vermöchte, waren damals schlecht von der Hand zu weisende Evidenzen, aus denen anarchistisch Denkende und Handelnde einiges an kritischem und emanzipatorischem Einspruchspotential geholt haben. Für die Stätten der bürgerlichen Erziehung, die Heime, Schulen, Kirchen, Vereine und so weiter galt das natürlich erst recht, schließlich waren die Kinder, denen dort zugemutet wurde, was die Norm war, in jeder Hinsicht waffenlos; aber anders als bei
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