Der Implex
deutlicher Schlagseite nach links und möglichst günstigen Ausgangsbedingungen für die Eröffnung der nächsten, auf den Sozialismus hinauslaufenden Runde. Lenin aber forderte in den berühmten April-Thesen, überraschend auch für seine Bolschewisten (nicht wenige von denen hielten ihn zunächst für verrückt), das Auseinanderjagen des bürgerlichen Parlaments und die Übertragung der gesetzgebenden wie administrativen Gewalt auf die Sowjets. Nur, weil er dies vertrat, konnte ihn jetzt Trotzki, der lange Zeit Zentrist, das heißt in Äquidistanz zwischen Menschewiki und Bolschewiki taktierender, vielleicht brillanter, möglicherweise auf lange Sicht unter weniger revolutionären Umständen irrelevanter Intellektueller geschrieben und gearbeitet hatte, für einen neugewonnenen Anhänger der Theorie der permanenten Revolution halten und so begrüßen, was wiederum auf Lenin den Eindruck machte, der bis dahin so unzuverlässige Trotzki sei erfreulicherweise über Nacht Leninist geworden. Was ihnen beiden damit gleichzeitig gelang, war der Bruch mit dem Stufenschema, das heißt die Wiedergewinnung der seit der Aufklärung immer wieder von theoretischem Efeu zugewachsenen Erkenntnis, daß die praktische Vernunftgeschichte ein sehr lebendiges Widerspiel zwischen logischen und kontingenten Faktoren ist (eine Erkenntnis, die freilich keinen Cent wert gewesen wäre, wenn nicht Leute im Heer des Zaren für ihre konkreten Folgekalküle zu begeistern gewesen wären – wichtiger als Fragen wie die, ob Hegel, Marx, Sorel oder Guido Westerwelle die richtige Geschichtsphilosophie hatten oder haben, müßten ja etwa auch für Leute, die heute in der Bundesrepublik Deutschland irgend etwas Revolutionäres oder wenigstens Demokratisches vorhätten, Probleme sein wie dasjenige, daß die Abschaffung der Wehrpflicht im Zuge der allgemeinen Modularisierung von Staatsaufgaben und mit der Absicht, ein modernes, situativimperialistisches Interventionsheer zu schaffen, nicht eine ungünstige Isolation bewaffneter Abteilungen der Staatsmacht von der Restbevölkerung bedeutet, infolge derer schon Vertreterinnen und Vertreter pazifistischer, geschweige umstürzlerischer Absichten schwer zu kämpfen haben werden).
Wenn schon Theorie (und wir haben, wie die Existenz dieses Buches beweisen dürfte, nichts dagegen), dann sollte den logischen Determinanten und Attraktoren der Angelegenheit zwar neben den kontingenten ein durchaus autonomes, mit diesen aber erkennbar zusammenwirkendes, interpenetratives Feld zugesprochen werden, vielleicht wie in der vorbildlichen Tabelle von Shulamith Firestone in The Dialectic of Sex , in der die Autorin die »proletarian revolution« als Emanzipation vom naturwüchsigen Produktionszusammenhang in direkter Strukturkorrespondenz zur »feminist revolution« als Emanzipation vom naturwüchsigen Reproduktionszusammenhang setzt.
»Praktische Vernunftgeschichte« (im Grunde dasselbe, was wir mit »sozialer Fortschritt« meinen, unter einem anderen, sozusagen analytischen statt synthetischen Gesichtspunkt betrachtet) ist ein Gegenstand, bei dem die Grenzen der Durchsetzbarkeit von Vernunft ebensosehr geschichtlich (also oft: sehr unvernünftig) sind wie ihre Chancen.
Wenn das, was Leute zur Geltung bringen wollen, die absichtlich (statt getrieben von bloßen Zug- und Druckkräften) Geschichte machen, Gedanken sind, heißt das nicht, daß der Kampf um diese Geltung selber etwas Gedankliches wäre. Kräfteverhältnisse als meßbare Sonderfälle von logischen Unterscheidungskriterien wie »richtig« und »falsch« beschreiben zu wollen statt Ideenstreitigkeiten umgekehrt als Sonderfälle von starken gegen schwache Parteiungen, halten wir für eine gefährliche Illusionenquelle. Soweit geschichtliche Ereignisse sich zu so etwas wie einer Erzählung von Siegen und Niederlagen der Vernunft zusammenbringen lassen – und wir geben zu, das geht nicht immer, aber die Fälle, wo das nicht geht, sind eben doch intellektuell eher unergiebig, außer für die Mythenforschung, Mircea Eliade kann sie haben –, versuchen wir also, sie nicht nur an ihrer Vernünftigkeit, sondern an ihren historischen Voraussetzungen und Folgen zu messen. Daß es Revolutionen gab, daß sie möglich waren und für nötig gehalten werden konnten, bringt uns dabei aber in eine Verlegenheit: Je genauer man Revolutionen gerade ihrem konkreten geschichtlichen Ablauf nach untersucht, desto sichtbarer wird, daß hier häufig Ereignisse beobachtet werden
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