Der Implex
Bücher lesen wie dieses hier, und manchmal solche schreiben, umgehört: Da war viel Wissen zu holen über die Komintern oder den Operaismus, über jüngste wilde Streiks in China, über den Kampf um die spanische Republik gegen Francos Armee, aber wenn wir von den Metallerstreiks in Schleswig-Holstein 1956 und 1957 sprachen, wußte niemand, daß der 17 Wochen gedauert hatte, und von den Bergarbeitern, die 1966 mit ihrer Renitenz und ihrem Kampf gegen Zechenschließungen zum Ende der Regierung des Idols aller Wirtschaftsliberalen und heutigen Hauptstadtyuppies mit Medien- oder Werbekarrieren, Ludwig Erhard, einen Beitrag leisteten, von dem man selbst im Wikipedia-Eintrag über Erhard nichts erfährt. Nicht die linke Tradition Westdeutschlands, sondern die Archäologie muß zu Rate ziehen, wer wissen will, um wen es sich beim vergessenen frühen DGB-Chefdenker Viktor Agartz gehandelt hat, was für urmarxistische Anregungen er den Gewerkschaften nicht ohne Gehör zu finden gab und wie der amerikanische Gewerkschaftsbund AFL/CIO seine Zahlungen zum DGB-Aufbau einstellte, wie Agartz wegen Hochverrats (eine Zeitschrift, die er gegründet hatte, wurde in stattlicher Anzahl von der SED beziehungsweise dem FDGB der DDR abonniert, dies galt im Westen als »Ostfinanzierung« für Agartz und führte zu seiner scharfen Verurteilung durch die vierte Gewalt, Strafmaß: Propagandistische Erledigung auf Lebenszeit) juridisch verfolgt, dabei nach allen Regeln der Kunst fertiggemacht und kaltgestellt wurde. Noch 1946 hatte dieser Mann nicht in Moskau vor der KPdSU, sondern in Hannover auf dem SPD-Parteitag erstaunliche (und bis heute nicht einmal in allen Punkten überholte) Dinge über die Besitzergreifung der Rohstoffquellen durch das Finanzkapital, den weltweiten Kapitalexport und »den im Entstehen begriffenen Neu-Liberalismus (!, K/D), der die Bedeutung des Gewinnstrebens und des Wettbewerbes überschätzt, der die Unvermeidlichkeit der Verbrauchslenkung in jeder modernen Volkswirtschaft verkennt und damit praktisch sämtliche Verbraucher der Bevormundung durch das Gewinninteresse privater Unternehmer ausliefert« 181 , erzählt, sich allerdings auch gegen »einen zentralistischen Staats-Kapitalismus in Form der marktlosen Wirtschaft« gewandt, den er im Osten realisiert sah, und namens der Sozialdemokratie, die ihn bald darauf fast ein Jahrzehnt lang als wirtschaftstheoretischen Vordenker der Gewerkschaften ertragen mußte, die im Lichte der seither eingetretenen Jugoslawien-Zerschlagung und EU-Formatierung durch die stärksten Mächte wehmütig stimmende Forderung ausgesprochen: »Die Wirtschaft des neuen Europas ist aufzubauen im Rahmen einer europäischen Arbeitsteilung, sodass die entstehende enge Verzahnung und Verknüpfung jede Möglichkeit eines Krieges für jeden Staat in Europa ausschließt.« 182
Arbeiterbewegung, das war für den SDS, aber auch die verschiedenen peking- oder moskautreuen Sekten, für ML-Zirkel und K-Grüppchen etwas, das man in Deutschland 1933 zerschlagen hatte, das man aber, als studentisch ausgebildete Avantgarde, jetzt wieder anregen sollte, zumal die kümmerlichen Reste dessen, was sie gewesen war, von Moskau aus mit der Errichtung der DDR beauftragt und so von revolutionären Umtrieben irgendwelcher Art abgelenkt waren. Man hat uns nichts erzählt; es gibt zwar eine marxistische oder marxophile Sicht auf die Dinge, aber nicht alle Dinge sind sichtbar.
Was man sich nicht durch Spuren erschließen kann, das muß man anderweitig rekonstruieren. Wo holt man es raus, worin steckt es?
II.
Sancta Johannas schiefes Schlagwort
Wenn Brecht seine Heilige Johanna der Schlachthöfe sagen läßt, es helfe nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, dann ist das eine schnittige Parole. Der Satz steht in einem Agitationsdrama, das zu den Werken gehört, die Peter Hacks verführten, gelegentlich von seinem einstigen Anreger und nicht besonders zuverlässigen Mentor zu bemerken, man könne dessen Sachen eigentlich nicht mehr lesen, aufführen oder sonst zu irgend etwas gebrauchen, das seien nämlich alles Gewerkschaftsstücke – ein ästhetischer Einwand, der sich in einen politischen kleidet und mehr mit der boshaft lobenden Feststellung von André Müller Sr. zu tun hat, Brechts bleibendes Verdienst sei es gewesen, den Deutschen den Weg zu Schiller (also zum nach klassischen Regeln gebauten Moraldrama, in dem die üble Niederlage des Üblen die Schönheit macht oder die nicht minder üble des Schönen die Tragik)
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