Der Implex
als das, was der Zweiten Internationale geschehen war. Der Opportunismus (schöner: Patriotismus) der großen sozialdemokratischen Parteien Kerneuropas hatte diese 1914 gefällt, sich nämlich geweigert, die ihnen von Marx und Engels vermachte Aufgabe zu erfüllen, im entscheidenden Moment den bürgerlichen Nationalstaat von links zu negieren. Der moderne technisierte, industrialisierte Krieg, mit dem die Linke sich zu allen Zeiten seit beider Bestehen so schwer tat, ist ja ohne diesen Nationalstaat nicht denkbar, der Militarismus, gegen den Luxemburg wie etwa Chomsky so ausdauernd gekämpft haben, entstand in der Französischen Revolution und im Bonapartismus, er war in Europa zunächst Kind einer (bald nicht mehr: der) Linken. Wie nun deren Rahmenbedingungen, eben die vom ständischen Unrecht befreiten modernen Nationalstaaten, die Negation des mittelalterlichen Ständestaats waren, so sollte der sozialistische Internationalismus sensu Marx die Negation dieses bürgerlichen Nationalstaats sein – die Dialektik geht so: Ohne Nationalstaat kein Internationalismus, ohne diesen keine globale Überwindung der Kriege, so ging die Hegelianisierung des Kantischen Einfalls vom »ewigen Frieden«. Dialektik allein gibt der Sache aber bloß die Form; ihr Inhalt war, wie bei Marx und Engels oft, eine raffinierte, an konkret Geschichtlichem gebildete Unterscheidung zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung: Kants Vorschlag kam zu früh, denn die Bürger, für die seine Sorte Aufklärungspazifismus redete (und denen Handel immer besser gefällt als Krieg), standen in Konkurrenzverhältnissen um Märkte (in welchen Krieg nicht selten Voraussetzung und Folge von Handel ist); erst der Liberalismus sollte die Produktivkräfte zu einer Transnationalität entwickeln, die dann die Abschaffung der Konkurrenzstaatlichkeiten erreichbar und zweckmäßig würde machen können. Was man sich daran merken sollte, ist die zentrale Bedeutung der nicht immer explizit gemachten Überzeugung der Gründerväter des Marxismus (die ebenso bei Hegel wie bei Condorcet, durch die ganze Aufklärung hindurch und bis zurück zu Giambattista Vico zu finden ist), die anzustrebenden Zustände (Sozialismus, Kommunismus, Weltfrieden) seien nicht nur Ersetzungen der ihnen vorangehenden und auch nicht einfach Ergebnis des Umstands, daß jene diesen sowohl historisch wie logisch vorausgesetzt sind, sondern auf eine nichttriviale Weise in ihnen enthalten, von ihnen erheischt, den in ihnen sich befindenden Menschen als konkrete Handlungsmöglichkeit wie abstrakte Denkmöglichkeit gegeben – der Weltfrieden wird von den Kriegen, die ihm vorangehen, nicht verhindert, sondern buchstäblich erst ermöglicht. Worauf wir damit hinweisen möchten, ist einfach, daß das, was wir den Implex nennen, nicht nur nichts Neues ist, sondern lustigerweise etwas, das den seit der Proto-Aufklärung entworfenen Fortschrittstheorien in genau der Weise begrifflich implizit ist, wie es der Geschichte real implizit sein muß, damit sich überhaupt jemand so etwas wie Fortschritt vorstellen kann.
Leute, die den ja nicht gerade eindimensionalen Gedanken von der notwendigen, aber nicht hinreichenden Vermittlung der hinreichenden durch die notwendige Bedingung des erstrebten Friedens nicht verstehen konnten oder wollten, fanden sich nicht nur im Bürgertum, sondern bald genug auch in der Sozialdemokratie; obszönerweise gab es besonders in der deutschen schließlich sogar welche, die aus ein paar strengen Zensuren, die Engels dem zaristischen Despotismus erteilt hatte, und aus dem Zorn des Alten auf die Reste des Mittelalters, der sich sogar zur Äußerung von Sympathien für eine kriegerische Entmachtung des Autokraten bereitfand, geraume Zeit später eine Legitimation ihres Verrats zogen. Lenin allerdings, und die auf der Zimmerwalder Konferenz geborene Dritte Internationale, ließen sich davon nicht im mindesten beeindrucken, sondern riskierten lieber einen neuen Anlauf, dessen Spätphase nach dem Zweiten Weltkrieg leider jeden Versuch einer weiteren weltweiten Neuformierung der Arbeiterbewegung zum Zweck der linken Aufhebung des Nationalstaats (in Zeiten, in denen er schließlich eine ganz andere Gestalt annahm) an die Sowjetunion band. Manche, die solche Versuche unternahmen, waren Schützlinge der UdSSR, andere ihre Geiseln. Die Spuren der dafür verantwortlichen ökonomisch-politisch-militärischen Großwetterlage kann man mit etwas detektivischem Geschick in allen Debatten
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