Der Implex
Poppers Behauptung, falsche Philosophie habe ihre Wurzel immer in wissenschaftlichem Ungenügen (nicht nur einzelner Köpfe, sondern etwa auch ganzer Kulturkreise, Epochen et cetera).
Nun weiß man ja, wenn man überhaupt etwas über die Wissenschaften weiß, daß sie ebenfalls lauter Dinge sagt, die dem common sense nicht gefallen können, die normale Wahrnehmung nicht decken, sie strapazieren, belasten, ihr widersprechen. Alle sehen doch, daß die Sonne sich um die Erde dreht, daß sie auf- und untergeht, wieso sollte es umgekehrt sein? Alle erkennen doch, daß Delphine und Wale Fische sind, wieso sollten sie keine sein? Allen ist doch glasklar, daß a + b dasselbe ist wie b + a, warum sollte es eine nichtkommutative Mathematik geben, in welcher dies nicht der Fall ist?
Manchmal hört man, wenn man die Strapazen ausstellt, denen sich der Verstand in allen diesen Fällen unterwerfen muß, um weiterzukommen, modernisierte Spielarten der alten aristotelischen Unterscheidung von Essenz und Akzidenz, von Wesen und Erscheinung also: Der Delphin mag aussehen wie ein Fisch, aber das ist nebensächlich, er ist wesenhaft Säugetier. Die Bestimmung des Säugetierstatus bei einer Spezies jedoch hängt, wenn wir den Erkenntnisschritt, den der Nominalismus vollzogen hat, nicht ganz rückgängig machen wollen, von der Arbeit Vokabular- und Grammatikproduzierender ab, die nicht Erscheinung gegen Wesen ausspielen, sondern Erscheinung mit Erscheinung verrechnen (schwimmt zwar mit Flossen im Wasser, säugt aber lebend geborene Junge) – Erscheinung ist, was die Empiristen »Wahrnehmung« nennen, Wesen aber ist nicht etwas anderes, sondern mit Wahrnehmung abgeglichene Wahrnehmung – das geht nicht immer so einfach wie beim Delphin, manchmal braucht es auch eine Genomanalyse; auch diese aber muß wahrgenommen werden, um in irgendeinen Benennungsakt eingerechnet werden zu können. Die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung hat keinen ontisch-metaphysischen Gehalt, der über die comparative evaluation of perceptions hinausreichen könnte. Es regiert Ockhams Rasiermesser: Wir denken ökonomischer und menschlichen Erkenntniszwecken angemessener, wenn wir Tiere nicht nach Lebensraum, sondern nach biologischen Funktionen klassifizieren – »angemessener« heißt nicht notwendig »knapper«; manche zutreffende Erklärungen verwickelter Sachverhalte sind länger als die meisten denkbaren (oder jedenfalls akut jemals kursierenden) falschen, vor allem dann, wenn Intuitionen oder eingeschliffene Redeweisen zunächst einmal aufgebrochen, in ihrer Vermitteltheit als notwendig verkehrt erwiesen werden müssen, weil der Augenschein (oder die bisherige Art, ihn zu bewerten) trügt. Erklären heißt nicht immer, Langes auf Kurzes oder Unbekanntes auf Bekanntes abzubilden; je nach Erkenntnisinteresse und Stand der Erkenntnistechnologien geht die Sache auch mal in umgekehrter Richtung – stets aber geht es darum, das jeweilige Maximum an Handlungsoptionen, an Möglichkeiten des Umgangs mit den untersuchten Dingen, also an nicht erwartbaren Verbindungen und Unterscheidungen, mithin nach dem Wortgebrauch der Informatik: das Maximum an Information aus dem Gegenstand der Aufmerksamkeit herauszuholen. Halte ich den Delphin für einen Fisch, entgehen mir Möglichkeiten seiner erkenntnisfördernden Nutzung (zum Beispiel für die evolutionsbiologische Theoriebildung oder die biotopübergreifende Säugetier-Komparatistik). Die Wissenschaft sagt Kontraintuitives, weil sie mehr wissen will, als die Intuition verrät, die dem naturwüchsigen Leben der Art, zu der wir gehören, angepaßt ist (also dem housebroken Affenverhalten).
Dasselbe gilt nun zwar, unmittelbar einsichtig, auch für den philosophischen »Unfug«, aber der Gegenstandsbereich der Philosophie – nicht Naturphänomene, auch nicht irgendwelche sozialen Phänomene skalierbar beliebigen Umfangs, sondern eine sehr spezifische Untermenge derselben, nämlich die Gebrauchsweisen (empirisch bereits gegebene und noch zu erschließende) von Begriffen – überantwortet deren Tätigkeiten einer eingebauten Selbstreflexivität, die sich zu Luhmanns vieldiskutierter »operativer Geschlossenheit« psychischer, sozialer und sonstiger Systeme verhält wie die Beobachtung zweiter zur Beobachtung erster Ordnung. Wenn die Philosophie sich damit befaßt, wie mit Begriffen umgegangen wird oder wie mit ihnen umgegangen werden könnte, dann geht sie dabei selbst mit Begriffen um, weshalb Philosophinnen
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