Der Implex
den Praktiken der sozialen Kontoführung enthalten sind.« 254
Was »jenseits von Gut und Böse« liegen mag, ist für diesen Standpunkt, den wir teilen, nicht das erregende nietzscheanische novum, sondern schlicht uninteressant, weil buchstäblich nicht von dieser (von Menschen bewohnten, von Menschen gestalteten) Welt, mit einem Wort: uninteressant.
Wir wollen den philosophischen Begriffsingenieurinnen und -experimentatoren keine Ratschläge erteilen, aber die Aufgabe, einen Moralkalkül zu erfinden, der wie William T. Vollmanns eher bastlerisch entworfener moral calculus über dem Verhältnis zwischen Sein und Sollen das andere zwischen Wissen und Wollen nicht ausklammert, zusätzlich aber philosophisch informiert und ambitioniert ist, könnte sich für sie hoffentlich so sehr lohnen, wie uns ihre Lösungen interessieren würden. Im Abgleich zwischen den Durchdringungsbeziehungen zwischen Sein und Sollen verlangt der Weg, den wir entlang unserer eigenen Begrifflichkeit durch die Erscheinungsweisen des sozialen Fortschritts gehen wollen, an dieser Stelle jedenfalls die Rückkehr zu den in diesem Kapitel weitgehend suspendierten Bereichen des Wissens und Wollens im nächsten, wo sich erweisen soll, ob der Durchgang durch deontische Fragen an der im fünften Kapitel auf know-how und Wissensproduktion eröffneten Perspektive etwas geändert hat oder nicht.
SECHZEHN
EINE WETTE AUF DAS WISSEN
I.
Persönliche und vergesellschaftete Kenntnisse
Wissenschaft heißt Lernen; erst vergrößert man den Abstand zwischen einerseits dem, was man selbst weiß, und andererseits dem, was die Menschheit weiß, dann den Abstand zwischen einerseits dem, was die Menschheit weiß, und andererseits dem, was stimmt, und wenn man Glück hat, hat das, was man und die Menschheit am Ende weiß, nur noch wenig mit dem zu tun, was man lernen mußte, als man angefangen hat.
Wenn man anfängt, sich beispielsweise für Chemie zu interessieren, kann man kaum fassen, daß brennendes Laub und Atmung ganz ähnliche Vorgänge sind, daß alles aus Atomen ist (unter denen man sich kleine Kügelchen vorstellen muß, die man nicht sehen kann oder, wenn man ein paar Jahre später aufwächst, eben doch, nämlich mittels Rastertunnelphotographie und ähnlichem), daß jemand weiß, wie viele Sorten von Sachen (»Elemente«) es gibt und sogar ungefähr sagen kann, wie diejenigen Sorten von Sachen beschaffen sind, die noch niemand kennt, die aber ein Muster werden vervollständigen müssen, über das man bereits sehr viel, wenn nicht alles Notwendige weiß.
Dann bringt einem jemand bei, daß das, was Atome wirklich sind, viel anstrengender zu wissen, zu verstehen und zu benutzen ist, als es zunächst aussieht, daß sie meistens sowieso nur in Molekülen vorkommen, daß es etwas gibt, was kleiner ist als Atome, was man unter Ionen versteht, Elektronenschalen, Bindungen, Reaktionen, Stöchiometrie, in stets beschleunigter Aufwärtskurve der Datenmenge, die man prozessieren soll, und soviel man am Anfang einfach glauben muß, weil nicht genügend Zeit ist, sämtliche Schritte der Entdeckung, der Probe und Gegenprobe noch einmal individuell zu durchlaufen, welche die Gattung durchlaufen hat, so wichtiger wird es, je mehr man lernt, die von denen, welche lehren, übersprungenen Denk- und Erfahrungsschritte mit irgendeiner Form der Aneignung des zu Erlernenden selbst zu vollziehen, bis schließlich das, was man als Chemie weiß, Dinge umfaßt, bis zu denen man niemals gelangt wäre, wenn man sich auf den Glauben ans fertige Wissen derer, die das Fach gelehrt haben, als man anfing, es zu erlernen, verlassen hätte: Ultraschnelle Spektroskopie erweist die Bindungen, welche nicht nur die Atome aufeinander verweisen, sondern das ganze Fach zusammenhalten, als weit weniger stabil, weit eher eine Art Durchschnittsprozeßfiktion, als Schülerinnen denken, wenn sie ihre Linien zwischen die Buchstaben malen, die für die Atome diskreter Elemente stehen; gesellschaftlich der Chemie vorgelegten Anfragen und Desiderate wie die katalytische Energiegewinnung, die künstliche Photosynthese, Nanotechnologie selbstkonstruierender Kleinstapparate, die sich und anderes zusammensetzen und auseinandernehmen, kann nur noch durch Arbeitsweisen begegnet werden, die über alle Fachgrenzen, von denen man in Schule und Studium erfahren hat, in Disziplinen greifen, die es noch gar nicht gibt; Computer, zum Zeitpunkt des ersten Interesses für chemische Dinge noch esoterisches
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