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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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ertrinken muß. Dazu kommt aber, daß die Steine denken und reden, daß sie mich täuschen und enttäuschen können – beim Manövrieren in sozialen Räumen (statt auf Robinson Crusoes berühmter einsamer Insel) kann es unter Umständen egal sein, ob ich an den Weihnachtsmann glaube, aber sehr wichtig, ob ich weiß, wie sich Leute verhalten, die das entweder tun oder es von ihren Kindern verlangen, und von der Glaubensfrage ganz abgesehen geht es bei den normativen, also direktiven und evaluativen Umständen, unter denen Leute denken und handeln, häufig darum, daß es mir gelingt, Sachaussagen (Wissen) in Verhaltensdispositionen (Glauben, für wahr halten) und diese in Direktiven (tun, lassen) zu übersetzen – Weihnachtsmann hin oder her, in Gesellschaften, die Weihnachten feiern, finde ich leichter Anschluß, wenn ich den Leuten, die das erwarten, zum richtigen Zeitpunkt Geschenke mache; das Beispiel läßt sich sehr leicht durch ein weniger malerisches ersetzen: In was für einer Gesellschaft ich mich befinde und wie die mit ihrem Geld (sowie, falls ich welches habe, mit meinem, und falls ich keines habe, mit mir) umgeht, lerne ich schnell, wenn ich weiß, daß in dieser Gesellschaft bestehende Banken eigentlich nur maximal das Zwölffache ihres Eigenkapitals für eigene (nicht vermittelte) Spekulationsgeschäfte einsetzen dürfen, ihnen dies aber nicht reicht, weshalb sie die bestehenden Regelungen mittels politischen Drucks allmählich ihrem größeren Bedarfshunger anzupassen suchen. Das individuelle Wahrscheinlichkeitslernen solchen Ineinandergreifens von Normen und Tatsachen kann für den Fortschritt des Gesamtwissens der Gattung zu gewissen sensiblen Zeiten von einiger Bedeutung sein: Daß Spinoza, auf dessen Denken und Trachten eine gewisse Historikerschule, die sich in den letzten Jahren um Jonathan Israel geschart hat, die ganze europäische Aufklärung zurückverfolgen möchte, das denkerisch zweifellos vieles in Bewegung bringende Postulat riskieren konnte, Natur und Gott fielen unmittelbar zusammen und man solle also das nicht zur Selbstverbessserung fähige Unternehmen der spekulativen Theologie fahren lassen, um sich statt dessen der exakten Naturforschung zuzuwenden, hatte viel damit zu tun, daß er den Verlust der Gemeinschaft mit dem religiösen Bekenntnis, dem er von Geburt an angehörte, nicht sehr viel teurer als tatsächlich am Ende gar mit dem Leben bezahlte, weil dieses Bekenntnis, das Judentum, eine seinerseits diskriminierte und verfolgte Sonderstellung innehatte – auf dieser Ebene sieht der putzige »Weihnachtsmann« unseres Gleichnisses sehr viel harmloser aus und das Leben der indischen oder chinesischen Wissenschaftsmigrantinnen weniger exotisch: Ja, als die moderne Naturwissenschaft in ihre Rechte zu treten begann, war ein Schicksal wie ihres das übliche auch für deutsche Forscher (an Forscherinnen war damals nicht zu denken), etwa den Freund Spinozas, Experimentator mit Brennlinsen und Brennspiegeln, Porzellanchemiker und Aufklärer Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, den sein Interesse am neuen Kosmos unter anderem in vom Handelskapital modernisierte Städte wie Leiden und London führte, der dort und in Deutschland mit wissenschaftlichen Großpionieren wie Leibniz und Boyle zusammenkam und danach in Netzwerken wirkte, den ökonomischen Realitäten seiner Zeit – noch ganz unterentwickelter Kapitalismus, keine Mittel also für bestimmte Spielarten sich ankündigender Großforschung – dadurch Rechnung trug, daß er sein ganzes Vermögen in seine Neugier investierte und den eng mit diesen ökonomischen Realitäten verknüpften ideologischen geschickt ausweichen mußte, da seinerzeit mehr auf dem Spiel stand als nur der Glaube an den Weihnachtsmann – ein pietistischer Geistlicher schimpfte, während Tschirnhaus in Dresden Chemie trieb, so energisch und bedrohlich gegen den wie alle Spinozabekannten, die etwas auf sich hielten, unter Atheismusverdacht stehenden Mann, daß dies seine zweite Frau 1707 Gesundheit (und wohl das Leben) kostete, acht Jahre vorher war ein gewisser Kuhlmann, mit dem zusammen Tschirnhaus als Herausgeber spekulativer Schriften von Jakob Böhme firmiert hatte, in Moskau auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Daß alle möglichen Gedankensysteme, normative und tatsächliche, miteinander so vereinbar sein mögen, wie Stephen Jay Gould das von moderner Naturforschung und christlicher (sowie hypothetischerweise manch anderer) Religion zu wissen

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