Der Implex
die Welt purzelnden Skepsisgeräusche und -affekte; Hacksens Versuch, ein Wort zu erfinden, das bestimmte gräßliche Zweifelformen so sicher bezeichnen soll wie der »Platonismus« gewisse gräßliche Formen der erschlichenen oder erpreßten Gewißheit, wollen wir ehren, indem wir das, was wir zuvor als »eine Wissenschaftslehre« eher von ungefähr umschrieben haben, ab jetzt »Neopyrrhonismus« nennen, auch wenn man dem antiken Namensgeber Pyrrho gelegentlich damit unrecht tun sollte – soweit seine Argumente aus zweiter oder dritter Hand überliefert sind, trat dieser erklärte Widersacher der Wissenschaften jedenfalls bündiger und gezielter gegen das auf, was ihm nicht recht war, als das die Leitfiguren der seit etwa 1900 um sich greifenden Fortschrittsenttäuschung tun. Diese Enttäuschung hat wenig mit den Schlächtereien des Ersten Weltkriegs, mit Hiroshima, Bhopal, Tschernobyl, den Verbrechen des Faschismus oder anderen Anlässen zu tun, aus denen sie gelegentlich abgeleitet wird; sie ist älter als alle diese Ereignisse und wird am lautstärksten und schärfsten von Leuten artikuliert, die von keiner dieser unterschiedlich gigantischen Grauenhaftigkeiten je persönlich etwas zu befürchten hatten, dafür aber eine andere Sorge mit ihrem Publikum teilen, welches in den reichen Ländern zumindest unter denen, die irgendeine abgeschlossene Schulausbildung erlebt haben, mittlerweile so zahlreich ist, daß man ohne Übertreibung von der absoluten Mehrheit reden kann: Sie alle wissen einiges, ja vieles über alles mögliche, was ihre Urgroßeltern nicht gewußt haben, und können deshalb aus erster Hand sehr Unfreundliches über die Baconsche Parole »Wissen ist Macht!« sagen; denn ohnmächtig sind sie alle, das verrät ihnen jede wirtschaftliche Tatsache, die über ihren Wohlstand, dessen Wachstum oder Schrumpfung entscheidet, jede politische Entwicklung, deren Objekt sie sind, jedes Abhängigkeitsverhältnis, in dem sie stehen, jede Unsicherheit über Lebensplanung, Chancen und Gefahren des Navigierens im Gemeinwesen, jede Angst, jedes Gehetztsein, jede Einsamkeit, jede Demütigung, jeden Tag. Zweifel an dem, was jemand weiß – das wissen in Wahrheit alle –, rühren von mißlingenden Handlungen oder von Handlungseinschränkungen: Da Menschen davon ausgehen, daß ihnen richtiges Denken richtiges Handeln erlaubt, werden sie immer dann, wenn sie unfrei sind, die Richtigkeit ihres Denkens in Frage stellen; das ganze Problem des Neopyrrhonismus (und, wenn man altphilologisch etwas gräbt, vielleicht schon der ursprünglichen Pyrrhoschule) ist in Wirklichkeit überhaupt keine Erkenntnisfrage, sondern eine gesellschaftliche: Wieviel darf man Leute lernen lassen, denen man keine Verfügung über ihre Lebensgrundlagen gestattet, bevor sie entweder aufbegehren oder, wenn der Weg dazu aus irgendeinem Grund versperrt ist, an ihren Sinnesdaten, an ihrem Verstand oder beidem irre werden? So wie »Langeweile« meist nicht bedeutet, daß Leute wirklich nicht wissen, was sie wollen, sondern daß sie genau wissen, daß etwas, das sie eigentlich gerne wollen würden, nicht einmal gewollt werden soll, also eine Blockade des Willens aus (nicht immer bewußter, geschweige richtig gedeuteter) Angst oder Widerspruch gegenstrebiger Wunschansprüche, bedeutet auch Zweifel weniger Datenkorruption als Optionenmangel, Entscheidungsblockade im Angesicht längst hinreichender Entscheidungsvoraussetzungen. Im Fall des Neopyrrhonismus rührt die »Erkenntnisverdrossenheit« – sit venia verbo – daher, daß die Aufklärungsforderung »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« im individuellen Maßstab gegen die Übel einer falschen Vergesellschaftungsform nicht viel ausrichten kann, eine Einsicht, die gerade den größten Individualistinnen, den entschiedensten Freunden des Reichtums individueller Menschen immer wieder an Stellen aufgegangen ist, an denen sie irgendein individuell eben doch lösbares Einsichtsproblem gelöst hatten und dann herausfinden mußten, daß, wer seinen eigenen Kram überblickt, noch längst nicht frei ist, wenn das Verhältnis zwischen freier Entfaltung des Einzelmenschen und freier Entfaltung aller so antagonistisch aussieht wie in Klassengesellschaften (Freud zum Beispiel mußte im entscheidenden Moment einräumen, daß selbst die Aufdeckung von dem Individuum nicht bekannten Handlungsimpulsen und Angstsperren nicht mehr leisten könne als die Verwandlung des neurotischen individuellen Elends
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