Der Implex
Gesellschaft, die sich schon Jahrtausende damit abschleppte, noch einmal Jahrhunderte kosten würde.
Was die Geschlechterdifferenz als eine der hartnäckigsten dieser Gewohnheiten angeht, so half sich nicht erst Marguerite Buffet mit dem Einfall, es gebe ja außer Genitalien auch noch Seelen, und diese hätten nun mal kein Geschlecht – sie leitete das philosophisch her, die religiöse Bewegung der Quäker entdeckte und vertrat denselben Befund dann theologisch, aber darauf kommt es nicht an (man könnte daraus sogar einen praktisch-forensischen Turing-Test für Seelen im Buffetschen oder Quäkersinn entwickeln: Wenn an ihren Äußerungen kein Geschlecht erkennbar ist, sind sie echt). Reflexe der rhetorischen, wissenschaftlichen und ideellen Gewitterwolken, die sich bei den Auseinandersetzungen entladen, die in diesem Zusammenhang stattfanden und stattfinden, findet man bis heute, zwei bis drei Frauenbewegungen und unzählige theoretische Feminismen später. Man wird darüber streiten und rechten wollen, solange Geschlechterdifferenzen überhaupt benennbar sind (und sie über den Punkt hinaus einzuebnen, an dem sie es nicht mehr wären, halten auch Leute, denen Emanzipation in jedem Sinne am Herzen liegt, nicht nur aus abstrakten Diversitätsgründen nicht unbedingt für eine der Freiheit zuträgliche Idee).
So optimistisch wie gereizt haben wir im vorangegangenen Kapitel gesagt:
»Die ganze endlose, ermüdende Debatte Nature versus Nurture , angeborene versus sozial konstruierte Identität ist ein Scheingefecht von Menschen, die zu faul oder ängstlich sind, die Details der Sozialisation aus den Details des Sozialen herauszulesen: das ›soziale Konstruieren‹ selbst ist Naturvorgabe beim Menschen, hardwired, und die Art, wie unsere Spezies ihr Genom verwirklicht, der menschliche Phänotyp, ist gesellschaftlich.«
Der Impetus, dem wir mit dieser Bemerkung gefolgt sind, ist derselbe, der den Anthropologen und biologischen Verhaltensforscher Melvin Konner dazu bestimmt hat, sein 2010 erschienenes summum opus über die Evolution der Kindheit 23 runde 900 Seiten lang der detaillierten Zurückweisung undialektischer Versuche, den Reichtum menschlicher Verhaltensoptionen in erzieherischer Absicht auf irgendwelche in ihn eingegangenen Möglichkeitsbedingungen zu reduzieren – der genetische Determinismus, faßt Konner seine Arbeit zusammen, sei als ernstzunehmende Erklärungsressource längst tot, der Umweltdeterminismus (der sich heute unter mißbräuchlicher Ontologisierung des Gedankens, beispielsweise Geschlechtsunterschiede seien wesentlich performativ angelegt, hinter allerlei Sprechakttheorien verschanzt und aus den brennenden, unter Achsbruch leidenden Resten der demolierten Sapir-Whorf-Hypothese Wagenburgen baut) sei im Zuge ernsthafter Entwicklungsstudien ebenfalls gestorben, und die einzige vernünftige Alternative sei ein komplexer, meßbarer und keineswegs indeterministischer Interaktionismus, den Konner nur deshalb nicht dialektisch nennt, weil das Wort nicht zum aktiven Sprachschatz der Neurowissenschaften gehört. Sein Name für die Wechselwirkung, die das alte Bild der auf dem wissenschaftlichen Feld um die Mustervorherrschaft ringenden Monokausalitätsmonster ersetzen soll, »Interaktionismus«, klingt uns zwar ein bißchen zu sehr nach Krabbelstube, Lernsoftware und Paartherapie, aber mit einem eher systemtheoretisch angelegten, am Strukturfunktionalismus sensu Parsons oder Luhmann orientierten Wort wie »Interpenetrationismus« käme man schon recht weit (und hätte über den Mehrfachsinn des Begriffs »Penetration« da, wo es nicht zuletzt um die Entstehung und den kindlichen und jugendlichen Erwerb von Geschlechterrollen geht, gleich einen Hinweis darauf untergebracht, daß man sich weder von den patrilineal weitergegebenen Heteronormativitäten, an denen sich die queer theory abarbeitet, noch von den durch diese im Abwehrkampf aufgestellten, mitunter beklagenswert sterilen Sexualdoxastika beeindrucken, einschüchtern, ablenken oder auf sie einschwören lassen will). Das Wort »Interpenetration« schlägt die Systemtheorie ja für Fälle vor, in denen Systeme anderen ihre eigene Komplexität zur Verfügung stellen, sich miteinander verschränken, um einander, so gekoppelt, bestimmte anders nicht zu erbringende Leistungen zu erbringen – man kann da an komplizierte Beispiele denken wie die Gesellschaft und die Psyche, wenn über Sprache die Komplexität ersterer der letzteren geöffnet wird
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