Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
Sie war erschöpft, halb verhungert und hatte soeben zum ersten Mal seit langer Zeit an den Tag ihrer Flucht gedacht. Da war es ja kein Wunder, wenn sie Trugbilder sah. Doch auch bei neuerlichem Hinschauen war die Ähnlichkeit zwischen dem Fremden und ihrem Bruder frappierend. Der Jüngling da vorn war sehr beleibt, dennoch konnte man erkennen, dass er ein wunderhübsches Gesicht hatte. Er war fürstlich gekleidet und trug einen riesigen Saphir an der Vorderseite seines Turbans. Es konnte sich nur um den Sohn des Maharadschas handeln.
    Uma war hingerissen von seinem Anblick. Genauso sähe heute ihr kleiner Bruder aus. Wie hatte sie Vijay nur so schmählich im Stich lassen können? Er war, das hatten sie von der anderen Seite der Brücke noch beobachten können, in Tränen ausgebrochen, als er von ihrem Ableben Kenntnis erlangt hatte. Er hatte sie mehr geliebt, als er zu zeigen in der Lage gewesen war, und wie hatte sie es ihm gedankt? Indem sie ihn einfach allein und schutzlos bei diesem Gewürm von Verwandtschaft zurückließ. Roshni, damals noch Nayana, hatte ihr unzählige Male die Argumente aufgelistet, warum es so und nicht anders hatte sein müssen: Vijay hätte sie verraten können; Vijay erging es bei dem Onkel nicht schlecht; Vijay hätte die Strapazen der Flucht nicht ertragen.
    Und wahrscheinlich hatte Roshni recht damit.
    Aber wenn es nun anders gewesen wäre? Was wussten sie denn schon von den Abgründen und den Nöten, der Pein und der Einsamkeit des Jungen? Vielleicht wäre er ihr mit Freuden gefolgt, hätte klaglos alle Entbehrungen hingenommen und hätte den beiden Frauen bedingungslos gehorcht. Eigentlich glaubte Uma selbst nicht so recht daran, aber trotzdem: Sie hätten das Risiko eingehen müssen. Alles, was danach geschehen war, war nicht mehr als die gerechte Strafe dafür, dass sie sich an ihrem Bruder versündigt hatte, und zwar einzig und allein aus Eigennutz.
    Der junge Prinz hieß den
mahout
den Elefanten anhalten. Flink kletterte er von dem Tier hinab, er schien einige Übung darin zu haben. Uma sah ihm immer ungläubiger zu, und ein einziger Gedanke erfüllte ihren Kopf: genau wie Vijay! Auch ihr Bruder war beweglicher gewesen, als man es bei seinem Umfang vermutet hätte. Der Prinz schob sich etwas in den Mund, kaute darauf herum – genau wie Vijay! – und gab seinen Dienern mit vollem Mund Anweisungen, die Uma nicht verstehen konnte. Dann schritt der Prinz kräftig aus und scheuchte die Diener, die ihm folgen wollten, mit einer unwirschen Geste fort.
    Uma hockte reglos auf ihrem Ast und unterdrückte ein Kichern. Bestimmt wollte der arme Kerl nur in Ruhe sein fürstliches Geschäft verrichten. Ob er sich ihren Baum als Sichtschutz auswählte? Er bewegte sich in ihre Richtung. Oje, er kam immer näher auf sie zu. Sie wusste nicht, ob sie sich ihr heraufsteigendes Lachen noch verbieten konnte, wenn er erst seine Hosen herunterließ. Doch der Prinz ging an ihrem Baum vorbei und verschwand in einem Gebüsch, das ihr die Sicht nahm. Nun, so erpicht war sie ja nun wirklich nicht darauf, sein weiches, dickes Gesäß zu sehen. Bei der Vorstellung gluckste Uma leise vor sich hin, und erst in letzter Sekunde hörte sie damit auf: Die Diener waren dem jungen Prinzen natürlich doch gefolgt. Sollte der Hoheit etwas zustoßen, würde man ihnen den Kopf abschlagen, und bei allem Respekt für die privaten Verrichtungen des Prinzen – diese Schande würden sie sich und ihren Familien nicht antun.
    Die Diener blieben unter Umas Baum stehen und unterhielten sich leise in einer Sprache, die Uma nicht verstand. Zwischendurch lachten sie verhalten, dann wieder gaben sie Laute des Erstaunens von sich. Wie lange sollte das denn noch dauern? Uma begann sich allmählich unwohl auf ihrem Ast zu fühlen. Sie spürte, dass ihr etwas am Bein heraufkrabbelte, und sie hoffte, dass es bloß eine harmlose Ameise war und nicht etwa eine Giftspinne. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Bei der kleinsten Bewegung von ihr hätten die Diener herauf in die Krone des Baumes geschaut, und dann … gar nicht auszudenken!
    Doch der Prinz kam nicht zurück. Die Männer wurden langsam unruhig. Einer von ihnen wurde zum Späher bestimmt, der sich leise anpirschen und nach dem Verbleib Seiner Hoheit sehen sollte. Der für diese Aufgabe ausgewählte Mann war erschreckend gut. Uma verfolgte seine Schritte bis hin zu dem Gebüsch, in dem sie den Prinzen hatte verschwinden sehen, und es war nicht das leiseste Rascheln zu hören.

Weitere Kostenlose Bücher