Der indigoblaue Schleier
rief sie, außer sich vor Zorn. »Ich lasse mich von Euch demütigen, indem ich mich auf Eure dreisten Preisverhandlungen einlasse, und Ihr besitzt auch noch die Frechheit, mit Eurem sittenwidrigen Wunsch den letzten Rest meiner bescheidenen Würde in den Schmutz zu ziehen?«
»Halt!«, unterbrach Miguel sie. »Mir scheint, wir reden aneinander vorbei. Dies war mein Preis: Ich möchte gern Euer Gesicht sehen, während wir hier am Tisch sitzen. Weiter verlange ich nichts. Kein Geld, keine weiteren Auskünfte darüber, warum Ihr Euch das Wohlergehen Eurer Dienerin so viel kosten lasst, nichts.«
»Und wenn ich mich darauf nicht einlasse?«, fragte Amba, deren Verwirrung wuchs.
»Ihr findet gewiss einen anderen ›katholischen Portugiesen aus guter Familie‹, der Euer Geld gerne nehmen wird. Vermutlich wird er wissen wollen, was es mit der ganzen Sache auf sich hat, und er wird ahnen, dass sich dahinter ein Geheimnis verbirgt, dessen Bewahrung Euch noch viel mehr Geld wert ist … Er wird Euch erpressen. Ich hingegen will nichts weiter, als Euer wunderschönes Gesicht sehen. Wenn ich es mir recht überlege, würde ich es nicht nur heute gerne sehen, sondern auch bei zukünftigen Begegnungen mit Euch.«
Amba gingen viele Fragen auf einmal durch den Kopf. Warum hatte sie am Morgen vor lauter Kummer und Sorge über Anuprabhas Verhaftung ihre Augen nicht geschminkt und ihren Ohrschmuck nicht angelegt? Wieso bereitete ihr der Gedanke, er könne sie nicht hübsch finden, so viel Unbehagen? War Miguel Ribeiro Cruz ein Phantast, ein Spinner, ein Träumer? Wie konnte ein angeblicher Kaufmann ein lukratives Geschäft ausschlagen, nur um das Gesicht einer Frau zu sehen? Und was hatte sie schon zu verlieren? Er hatte ihr Gesicht schließlich schon einmal gesehen, wenn auch nur kurz.
Miguel hob fragend die Brauen und verzog die Lippen zu der Andeutung eines Lächelns. Es kostete ihn große Anstrengung, Dona Amba nicht zweideutig anzugrinsen. Merkwürdig, bei keiner anderen Frau wäre ihm sein Wunsch, ihr Gesicht betrachten zu dürfen, so … so schlüpfrig erschienen. Es war beinahe so, als hätte er sie gebeten, sich vollständig vor ihm zu entkleiden. Plötzlich kam er sich schäbig vor. Eine Frau, die an den Schutz der Verschleierung gewöhnt war, musste das Entblößen des Gesichts ja tatsächlich eine große Überwindung kosten. Nein, er war zu weit gegangen. Das war zu intim.
Doch gerade als er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, griff Dona Amba mit beiden Händen an den Saum ihres blauen Schleiers. Miguel hielt den Atem an. Sie zog den feinen Stoff wie ein Kopftuch über ihr Haar. Dann hob sie das Kinn und sah ihn an. Ihr Blick hätte hasserfüllter nicht sein können.
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34
D as Holi-Fest stand bevor. An Holi zelebrierten die Hindus den Beginn des Frühlings, und es war einer der wenigen nichtkatholischen Feiertage, die von den Portugiesen toleriert wurden. Man hatte versucht, den Menschen diesen heidnischen Hokuspokus zu verbieten, doch die Inder fuhren im Verborgenen damit fort. Immerhin hatten sie die Festivitäten, die ursprünglich bis zu einer Woche andauerten, auf einen einzigen Tag reduziert. Und weil es ein farbenfrohes, friedliches Fest ohne einen allzu deutlichen Bezug zu einer bestimmten Gottheit war, fanden auch die Portugiesen Gefallen daran. Die Kirche sah sich gezwungen, die Späße zu dulden. Ein Frühlingsfest, wer wollte den armen, unwissenden Kreaturen dies verwehren?
Die Inder bewarfen einander mit
gulal,
Farbpulver, und gedachten dabei Krishnas, der das Fest der Farben ebenfalls schon begangen hatte, sowie des jungen Prinzen Prahlada, der die Dämonin Holika besiegt hatte. All das erfuhren die Portugiesen natürlich nicht, in ihrer Gegenwart stellte man es als ein reines Freudenfest dar, mit dem das Erblühen der Natur gewürdigt wurde. Die rote Farbe, die aus den heiligen Blüten des Palasa-Baums gewonnen wurde, kam dabei bevorzugt zum Einsatz. Alle Bewohner Goas, Inder wie Portugiesen, die mit der Sitte vertraut waren, trugen an Holi ihre älteste Kleidung. Nicht selten wurde man bei einem kurzen Gang über die Straße von so viel Farbe getroffen, dass die Kleider danach ruiniert waren.
Miguel war vorgewarnt worden. Die Mendonças hatten ihm von dem Fest erzählt, doch er hatte ihre Schilderungen für maßlos übertrieben gehalten. So kam es, dass er nun an sich herabblickte und sich vorkam wie der Hofnarr. Er hatte seine normale Straßenkleidung angezogen: ein weißes Hemd mit
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