Der indigoblaue Schleier
trieb es mit ihrer Fürsorge am weitesten. Wenn sie ihr Geld nicht für Ambas Lieblingsspeisen ausgab, dann kaufte sie davon Süßigkeiten für den Vierjährigen, der gottlob so viel rannte und kletterte, dass er trotzdem nicht dick wurde.
Der Junge, Vikram, winkte Amba aus dem Banyanbaum zu und setzte dabei eine Miene auf, in der halb Triumph, halb Schuldbewusstsein lag. Er wusste, dass er hier nicht spielen sollte, wenn Ambadevi zu Hause war. Er wusste aber auch, dass diese es ihm nicht übelnahm, sondern sich im Gegenteil zu freuen schien. Mit einem Arm klammerte er sich an eine der Luftwurzeln, an der er nun wieder schwang – nachdem er kurz zuvor heruntergefallen war, offenbar der Grund für seinen schrillen Schrei. Amba winkte ihm mit ihrer schmalen, hennabemalten Hand zurück und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
Außer der alten Nayana, die Amba schon von Kindesbeinen an kannte, waren Vikram, seine Mutter Shalini, der junge Makarand, die Köchin Chitrani, der alte Gärtner Dakshesh sowie die beiden Dienstmädchen Anuprabha und Jyoti die einzigen Menschen, vor denen Amba sich ohne Schleier zeigte. Sie wusste um deren absolute Verschwiegenheit, die ihren Grund nicht unbedingt in der Vertrauenswürdigkeit all dieser sieben Personen hatte, sondern vielmehr in einer Mischung aus Dankbarkeit und Angst. Jeder Einzelne von ihnen hatte in Ambas Haus eine sichere Zuflucht gefunden, die er gewiss nicht durch leichtfertiges Geschwätz aufs Spiel setzen würde.
Shalini war aus ihrem Dorf verstoßen worden, als sie, fünfzehnjährig, nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war. Amba hatte das verstörte Mädchen vor dem Tempel der Parvati gefunden, wo es hochschwanger um Almosen bettelte, und bei sich aufgenommen. Zunächst sollte es nur für die Dauer des Kindbetts sein, doch dann hatten Shalinis Nähkünste und der steinerweichende Anblick des kleinen Vikram Amba dazu veranlasst, sie dauerhaft bei sich zu behalten.
Der schlaue Makarand war vierzehn Jahre alt. Mit elf war er aus seinem Elternhaus geflüchtet, weil sein Vater, ein bettelarmer Steinbrecher, seinen jüngsten Sohn einem Kamelhändler auf der Durchreise verkaufen wollte, der angeblich einen kräftigen Jungen brauchte, um die Tiere zu füttern und ähnliche Handlangerarbeiten auszuführen. Makarand wusste aber, dass er, wenn er erst in Persien wäre, als Sklave weiterverkauft worden wäre. Noch in der Nacht bevor der Kamelhändler weiterzog und in der er das Gespräch zwischen seinem Vater und dem Araber belauscht hatte, war er geflohen. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um aus den Bergen im Norden bis an die Küste Goas zu gelangen, zu Fuß und zu Kamel, auf Ochsenkarren oder Flussbooten. Mit Diebstählen und Bettelei hatte er sich über Wasser gehalten, doch dann war er schwer erkrankt und wäre wohl auch gestorben, wenn nicht seine Retterin des Weges gekommen wäre. Amba hatte ihn am Straßenrand aufgelesen, wo er mit furchtbarem Durchfall hockte. Obwohl Amba Hunderte solcher Kinder gesehen hatte und wusste, dass sie nicht allen helfen konnte, hatte sie sich um Makarand gekümmert – mehr aus Wut, weil er nämlich genau vor einem Schrein ihrer Göttin gehockt und den Boden beschmutzt hatte. Inzwischen war Makarand nicht nur kerngesund, sondern auch im Stimmbruch und manchmal ein wenig rebellisch. Doch er war Amba treu ergeben wie ein Hund, und seine auf der Flucht erworbenen Fähigkeiten machten ihn zu einem idealen Laufburschen.
Chitrani, die Köchin, war vor mehr als einem Jahr zu ihnen gekommen, nachdem ihre Schwiegermutter sie mit Öl übergossen und sie angezündet hatte. Wie eine menschliche Fackel war Chitrani aus dem Haus gerannt, schreiend und eine dunkle Rußwolke hinter sich herziehend, bis sie sich in den Fluss stürzen konnte. Nicht des Schwimmens mächtig und noch dazu mit schweren Verbrennungen, wäre sie wahrscheinlich jämmerlich ertrunken, wenn nicht Amba im Gedenken an das Gangaur-Fest, bei dem sich einst ihr Schicksal besiegelt hatte, ein Opfer am Ufer des Flusses dargebracht hätte. Sie fand die Frau, mehr tot als lebendig, pflegte sie gesund und stellte fest, dass sie eine vorzügliche Köchin war. Chitrani also, diese friedliebende, stille und tüchtige Frau in Ambas Alter, deren einziger Fehler es war, in siebenjähriger Ehe keine Söhne bekommen zu haben, und deren Töchter alle noch als Säuglinge von einer seltenen Erkrankung dahingerafft worden waren, blieb ebenfalls in Ambas Haushalt und war froh, ihre
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