Der indigoblaue Schleier
Brandnarben hinter den duftenden Dampfschwaden verbergen zu dürfen, die aus den Kochtöpfen aufstiegen.
Dakshesh war alt und fast blind. Als auch sein letzter überlebender Sohn sowie dessen Frau und Kinder vom Sumpffieber dahingerafft wurden, war der alte Mann von der Barmherzigkeit der anderen Dorfbewohner abhängig geworden. Als Amba eines Tages durch dieses Dorf reiste, beobachtete sie, wie die Kinder ihn mit Fischabfällen bewarfen und kein Erwachsener einschritt. Sie unterhielt sich mit dem Alten und beschloss, ihn bei sich aufzunehmen – immerhin bedeutete sein Name »Shiva«, und den Gemahl Parvatis konnte sie ja unmöglich dort der Willkür der rohen Landbevölkerung ausgesetzt lassen. Das war vor fast vier Jahren geschehen, und Amba hatte ihre Entscheidung nie bereut. Dakshesh war ein begnadeter Gärtner, denn was ihm an Augenlicht fehlte, machte er mit seinem Tast- und Geruchssinn wett. Er sprach mit den Pflanzen, und sie gediehen prächtiger als irgendwo sonst.
Die beiden Dienstmädchen waren 16 und 17 Jahre alt. Anuprabha, die jüngere, war als Akrobatin aufgetreten, bevor sie von ihrer wohlwollenden Tante fortgejagt wurde. Das schlichte Hochseil, das ihr Onkel und ihre Cousins vor jeder Darbietung neu aufbauten, hatte dem Gewicht des Mädchens nicht mehr standgehalten – kein Wunder, war es doch für das Gewicht eines kleinen Mädchens konstruiert und nicht für das einer jungen Frau. Bevor die Familie Anuprabha in ein Bordell stecken konnte, was der übliche Werdegang der umherziehenden Akrobatenmädchen war, hatte ihre Tante sie unter Tränen angefleht, das Weite zu suchen. Doch auf sich gestellt, drohte ihr genau dasselbe Schicksal. Anuprabha hatte das Glück gehabt, an einem Tag, an dem Amba zu Parvati betete, beim Tempel zu sein und mit ihrer kunstvollen Hennabemalung Ambas Interesse zu wecken. Amba fand, dass sie durchaus noch Verwendung für ein Mädchen hatte, das in kosmetischen Dingen so bewandert war, das außerdem bildhübsch war und eine wunderschöne Singstimme hatte, und bot ihr Obdach an. Seitdem erfüllte Anuprabhas melancholischer Gesang das Haus, und Amba dachte immer öfter, dass es an der Zeit war, dem Mädchen einen Ehemann zu suchen.
Jyoti indes hatte von der Ehe schon genug. Man hatte sie mit einem Greis verheiratet, als sie vierzehn war, und dann von ihr verlangt, sich nach dessen nicht gerade überraschendem Tod mit seinem Leichnam zusammen verbrennen zu lassen. Jyoti war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn gewesen. Die Familie ihres verstorbenen Mannes hatte keinerlei Verwendung für ein kerngesundes, aber nicht besonders hübsches Mädchen gehabt, sehr wohl aber für ihre Mitgift. Jyoti hatte sich geweigert, den Scheiterhaufen zu besteigen, und war mit einem Rassehengst, den sie ungesattelt aus dem Stall holte, der trauernden Familie einfach davongaloppiert. Das Pferd hatte sie wenig später verkauft, und zwar an Amba, die, als sie die Geschichte des Mädchens hörte, deren Mut und Stärke bewunderte und ihr eine Stelle in ihrem Haus anbot.
Ja, sinnierte Amba, während Nayana weiterhin sanft das Kokosöl in ihr Haar massierte, ein schönes Kaleidoskop an indischen Schicksalen war da in ihrem Haus versammelt, alle zusammengeführt von der göttlichen Parvati – und ihrem, Ambas, Bedürfnis, ihrem schlechten Karma gute Taten entgegenzusetzen. Doch nicht Großherzigkeit allein war es, die sie dazu veranlasst hatte, diese Armen, Ausgestoßenen und Verlassenen bei sich aufzunehmen, sondern der durchaus eigennützige Wunsch, einen menschlichen Schutzwall um sich herum aufzubauen. Je größer der Anschein von Normalität war, den sie sich verleihen konnte, und normal war es für eine Dame ihrer Kaste, viele Dienstboten zu haben, desto weniger unangenehme Fragen würde man ihr stellen – Fragen nach ihrer Herkunft, nach ihrem Vermögen, nach ihrem Glauben. Oder gar nach ihrem Aussehen.
Am späten Nachmittag desselben Tages meldete Makarand einen Besucher. Amba legte sich ihren blauen Schleier übers Gesicht und ließ den Mann hereinführen. Sie hatte damit gerechnet, dass Manohar auftauchen würde, nicht jedoch damit, dass es so bald passierte. Der Widerling war unersättlich und wurde, genau wie Rujul, immer dreister. Es war schrecklich, so abhängig von den beiden zu sein, aber eine bessere Lösung war Amba bislang nicht eingefallen. Vielleicht sollte sie den Spieß einfach umdrehen und Manohar erpressen? Bei einem Feigling wie ihm wären die Aussichten auf Erfolg gar
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