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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Agostinho. Crisóstomo streifte seine Ledersandalen vor dem Portal ab und betrachtete auffordernd Miguels Stiefel. Als dieser keine Anstalten machte, sein Schuhwerk abzulegen, zuckte der Junge mit den Schultern. Er legte den Zeigefinger an die Lippen, um Miguel zu bedeuten, still zu sein, und ging voran in die Kirche. Miguel fand das wichtigtuerische Gehabe des Jungen überaus amüsant. Crisóstomo benahm sich, als würde er einen Ungläubigen, dem man erst die Gepflogenheiten erklären musste, auf geweihte Erde geleiten.
    Gedämpftes Licht und kühle, leicht modrig riechende Luft empfing sie. Das Gotteshaus mit dem imposanten Glockenturm war noch keine dreißig Jahre alt, und es beeindruckte mit herrlichen zeitgenössischen Azulejos. Die blau-weißen Kacheln zeigten biblische Motive sowie Lebensstationen des Heiligen, nach dem die Kirche benannt war. Da gerade keine Messe stattfand, befanden sich nur wenige Personen hier, die meisten davon ältere Damen, die still ihren Rosenkranz vor sich hin beteten. Nachdem Miguels Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, entdeckte er in einer der vorderen Bänke eine vertraute Gestalt – allerdings in unvertrauter Haltung. Carlos Alberto kniete und schien ins Gebet vertieft, wobei man das von hinten schlecht beurteilen konnte.
    Miguel folgte Crisóstomo gemessenen Schrittes durch den Mittelgang, um sich dann geschmeidig in dieselbe Sitzreihe gleiten zu lassen, in der Carlos Alberto saß. Dieser blickte nicht einmal auf. Er hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als murmele er ohne Stimme ein Gebet. Miguel hatte große Lust, seinen vermeintlichen Freund am Kragen zu packen und ihn vor die Kirche zu zerren, um dort sein scheinheiliges Getue aus ihm herauszuprügeln. Doch Crisóstomo, der diese Reaktion vorherzusehen schien, hielt ihn davon ab. Der Junge zupfte ihn am Ärmel und blickte ihn flehend an, ganz als wolle er ihn bitten, bloß kein Aufsehen zu erregen.
    Also kniete Miguel sich neben Carlos Alberto, und zwar so dicht, dass allein die Tatsache, dass dieser nicht aufblickte, sein Gebet als Posse entlarvte. Jeder andere Mensch, sosehr er auch in die Andacht vertieft war, hätte sehen wollen, wer ihm in einer beinahe menschenleeren Kirche so auf die Pelle rückte.
    »Kein Heiliger wird dir je beistehen, Carlos Alberto Sant’Ana, da kannst du beten, so viel du willst. Sie mögen keine Leichenfledderei, weder wenn es ihre eigenen Leichen sind, noch wenn es sich um arme namenlose Kadaver handelt«, raunte er ihm ins Ohr.
    Carlos Albertos Adamsapfel hüpfte auf und ab, doch die Augen blieben geschlossen. Fast bewunderte Miguel ihn für seine Kaltblütigkeit.
    »Amen«, hörte er den falschen Freund flüstern. »Seit wann scherst du dich um die Unversehrtheit der Gebeine von Heiligen oder besser gesagt: von indischen Cholera-Toten? Sieh lieber zu, dass deine eigenen Knochen heil bleiben. Denn wenn du mich anschwärzt …« Er führte nicht genauer aus, was Miguel in diesem Fall drohte, denn dieser war bereits aufgestanden und schlüpfte nun ebenso leise und unauffällig aus der Sitzreihe, wie er gekommen war. Erst im Mittelgang schritt er energischer aus. Er musste die Kirche so schnell wie möglich verlassen, sonst platzte er noch vor Wut.
    Vor dem Portal knöpfte er sich Crisóstomo vor. »Wie lange geht das schon so? Woher wusstest du, dass Senhor Carlos Alberto sich hier aufhält? Und warum hast du mich hergeführt?«
    Crisóstomo antwortete nicht sofort.
    »Sprich, Junge! Du wolltest mich also mit deiner ›Unsichtbarkeit‹ beeindrucken. Nun, das ist dir gelungen. Aber wenn du über die Geschehnisse so gut unterrichtet bist, warum hast du mir nicht früher Bescheid gesagt?«
    »Das wollte ich ja, Senhor, aber es fand sich keine Gelegenheit dazu. Wie Ihr wisst, kann ich meine Arbeitsstätte nicht nach Belieben verlassen. Heute ist eine Ausnahme.«
    Na schön. Miguel sah ein, dass er seinen Unmut nicht an dem Jungen auslassen durfte, der ihm ja eigentlich nur einen Gefallen hatte erweisen wollen.
    »Was machst du an einem ›freien‹ Tag wie diesem, wenn du dich nicht in die Angelegenheiten fremder Leute einmischst?«
    »Dieses und jenes«, antwortete Crisóstomo ausweichend und rollte mit dem Kopf. »Heute werde ich nach Hause gehen, also zu meinen Leuten.«
    Miguel wusste, dass die indischen Dienstboten in einer Art Leibeigenschaft gehalten wurden. Von Indern hoher Kasten wurden sie dabei meist noch schlechter behandelt als von den Europäern.

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