Der indigoblaue Schleier
erklärte Crisóstomo. »Und alle meine elf Geschwister auch.« Er sah Miguel direkt in die Augen, in seinem Blick lag dabei Trotz genau wie Stolz. »Leider sind zurzeit fast alle fort, bei der Arbeit. Aber wenn Ihr wollt, könnt Ihr meinen jüngsten Bruder kennenlernen. Er ist sechs Jahre alt und hütet unsere zwei Ziegen und vier Hühner. Nächstes Jahr wird auch er anfangen, als
punkah wallah
zu arbeiten.«
Der Kleine sah aus, als wäre er höchstens vier Jahre alt, so klein und dürr war er. Doch er schien ein aufgewecktes Kerlchen zu sein, und er zeigte Miguel ein entwaffnendes Lächeln, wie Miguel es bisher nur in Indien gesehen hatte. »Schaut nur, Senhor, wir haben Welpen«, sagte er in schlechtem Portugiesisch zu dem Besucher und lief aufgeregt voran zu einem Winkel, der aus dieser und der benachbarten Hütte gebildet wurde. Dort lag eine Hündin mittlerer Größe und unbestimmter gelblichbrauner Farbe im Staub, an deren Zitzen ein ganzes Knäuel flauschiger Kugeln hing. Miguel tat dem Jungen den Gefallen und staunte betont wortreich über diese wunderschönen Hundebabys, von denen er wusste, dass sie doch nur wieder zu hässlichen, kranken Kreaturen heranwachsen würden.
Einer der Welpen sah zu Miguel auf. Er löste sich aus dem Knäuel und lief tapsig und schwanzwedelnd auf ihn zu. Obwohl er kein besonders rührseliger Mensch war und außerdem ahnte, was dieses Hündchen alles an Ungeziefer mit sich herumschleppte, streichelte Miguel ihn und staunte über die Gefühle, die ihn ergriffen. Er nahm den kleinen Kerl hoch, der ihm daraufhin vor Begeisterung das Gesicht abschleckte.
»Wollt Ihr ihn behalten, Senhor?«, fragte Crisóstomo.
»Um Gottes willen, was soll ich mit einem Hund anfangen? Nein, nein. Außerdem ist er ja noch zu jung, um von seiner Mutter fortzukönnen.«
»Das sieht nur so aus. Die Welpen sind neun Wochen alt. Und er wäre bestimmt ein guter Wachhund, so etwas erkenne ich gleich. Er würde Euch gute Dienste leisten.«
Miguel nahm den geheimnistuerischen Ton durchaus wahr. Was wollte ihm Crisóstomo sagen? Dass er angesichts der aktuellen Ereignisse besser mit einem Hund als Leibwächter herumlief? Er dachte einen kurzen Moment darüber nach, bevor er sich einen Ruck gab.
»Na schön, warum eigentlich nicht? Auf dem Solar das Mangueiras ist Platz genug.«
Kurz darauf erklärte Crisóstomo die Besichtigung seines Viertels, das den Namen Panjolim trug, für beendet. Nebeneinander trotteten sie den Hang hinab, begleitet, wie Miguel wusste, von neugierigen Blicken aus den Augenwinkeln der Bewohner. Sie alle würden sich noch wochenlang die Mäuler darüber zerreißen, wie der hochgeborene Herr mit einem Welpen auf dem Arm ihre Gegend verließ – die Stiefel rot vor Staub, das Gesicht nass vor Schweiß und das Wams von den Ausscheidungen des Hundes befleckt.
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17
A mba saß im Schneidersitz auf einem Bodenkissen. Vor ihr stand auf einem niedrigen Tisch ihr silbernes
paan daan,
ein Kästchen, in dem sie die Zutaten für ihr
paan
aufbewahrte. Sie entnahm dem Kästchen ein grünes Betelblatt. Auf dieses Blatt gab sie einen kleinen Löffel einer Paste, die aus gelöschtem Kalk und geriebener Betelnuss bestand. Darauf häufte sie ein wenig von ihrem speziellen
paan masala,
einer Gewürzmischung aus Kardamom, Minze, Tabak und Nelken, die Jyoti ihr erst vorhin nach ihrem Rezept zubereitet hatte. Anschließend faltete sie das Betelblatt sorgfältig zu einer kleinen Pyramide zusammen, steckte es mit einer Gewürznelke fest und schob es sich genüsslich in den Mund.
Der erfrischende Geschmack und die belebende Wirkung der Betelnuss und des Betelblattes machten
paan
zu einer Delikatesse, die gerne nach dem Essen genossen wurde. Es sorgte für einen guten Atem und eine gesunde Verdauung. Amba jedoch liebte vor allem das Ritual des Herstellens ihres
paan.
Auf den Märkten konnte man fertige
paan
-Hütchen kaufen, aber um nichts in der Welt hätte Amba auf die beruhigende Prozedur verzichtet. Allein der Anblick des Kästchens und das sorgfältige Abstimmen der Zutaten ließen sie zur Ruhe kommen und die Ereignisse des Tages abstreifen. Den Europäern erging es wohl so ähnlich, wenn sie eine Karaffe öffneten, ein hübsches Glas füllten und sich damit in einen Sessel sinken ließen.
Sie schickte nach Anuprabha, um sich von ihr die Hände und Arme massieren zu lassen. Bei dieser Gelegenheit würde sie sich auch einmal mit dem Mädchen über dessen Zukunft unterhalten. Für immer und ewig
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