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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Bei ihm auf dem Solar das Mangueiras war es kaum anders als im Haus der Furtados. Die Dienstboten schliefen auf Matten, die sie abends im Flur oder auf der Veranda ausrollten, und hinter den Häusern, in denen sie beschäftigt waren, gab es meist einen Verschlag, in dem sie sich waschen konnten, in dem sie ihre Kleidung aufbewahrten und in dem ein Abtritt untergebracht war. Dass sie ein anderes Heim haben könnten, es vielleicht sogar vermissten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Und was sollte das schon für ein Zuhause sein? Schließlich hatten die Leute ihren Herrschaften praktisch rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen, pro Monat gab es, abgesehen von den sonntäglichen Kirchgängen, einen halben freien Tag.
    »Ah«, sagte er, »und wo ist das, wo du zu Hause bist? Willst du es mir zeigen?«
    Crisóstomo nickte begeistert. In Gesellschaft eines reichen jungen Herrn in seinem Viertel gesehen zu werden würde ihm Ansehen verschaffen und Gesprächsstoff für Monate bilden – für ihn selber wie für andere.
    Miguel freute sich ebenfalls auf den Ausflug. Er hatte noch nie eines der Eingeborenenviertel besucht, da man ihm dringend davon abgeraten hatte, sich ohne Begleitung hineinzuwagen. Raub war das Mindeste, was ihm drohte, seine Ermordung nicht allzu unwahrscheinlich, so hatte es geheißen. Zwar hatte er den Schauermärchen, die über vermisste Portugiesen kursierten, keinen Glauben geschenkt, aber er hatte trotzdem den Rat beherzigt. Er würde allein durch seine Kleidung die Aufmerksamkeit aller kriminellen Subjekte auf sich lenken, und ohne jeglichen Schutz würde er sich dieser Gefahr nicht aussetzen. In Crisóstomos Begleitung aber, das wusste er, wäre er sicher. Die Bewohner der Elendsquartiere würden einen Gast von einem der Ihren niemals angreifen.
    Das Viertel lag gut eine Meile außerhalb des Stadtkerns an einem Seitenarm des Mandovi-Flusses. Die Hütten waren kaum anders beschaffen als die in den Dörfern, die Miguel bisher gesehen hatte, doch standen sie sehr viel dichter beisammen. Manche klebten förmlich aneinander, ein Gewirr aus Holzbalken, Tuchplanen, Palmblättern und Bambusstangen. Kaum vorstellbar, dass ganze Familien solche Behausungen ihr Heim nannten. Zwischen den windschiefen Hütten huschten Hühner und räudige Hunde umher, und Wäscheleinen spannten sich über sämtliche Durchgänge. Die kunterbunten Saris, die im Wind flatterten, verliehen dem schäbigen Hüttendorf etwas Malerisches.
    Miguel spürte, dass die Leute ihm heimlich nachglotzten. Sie alle, ob Heranwachsender oder Greis, Mann oder Frau, gingen weiter ihren Beschäftigungen nach, als sei alles wie immer. Doch Miguel kannte die Inder inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sein Erscheinen hier ein Spektakel war, über das sich alle die Mäuler zerrissen. Nur die kleinen Kinder zeigten ihre Neugier offen. Bald hatte sich eine ganze Traube zerlumpter Kinder gebildet, die lachend und schreiend hinter ihm herlief, was ihren Müttern einen perfekten Vorwand lieferte, den Fremden genau zu studieren. Während sie so taten, als riefen sie nach ihren Kindern, beäugten sie Miguel von Kopf bis Fuß, und kein Detail war zu unbedeutend, um nicht später, wenn man ums abendliche Feuer saß, geschildert zu werden.
    Die Wege waren aus Lehm, und er mochte sich nicht vorstellen, wie sie während der Regenzeit aussahen, wenn auch noch der Fluss über die Ufer trat. Am schlammigen Ufer knieten ein paar Frauen und wuschen Wäsche. Zwei junge Mädchen schöpften Wasser in große Tonkrüge, die sie auf dem Kopf forttrugen. Miguel schauderte bei der Vorstellung, dass dieses verdreckte Wasser den Leuten zum Trinken und zum Kochen diente.
    Dass die Frauen trotz ihrer erbärmlichen Lebensbedingungen und trotz des allgegenwärtigen Schmutzes so anmutig wirkten, erfüllte Miguel mit einer Mischung aus Freude und Mitleid. Selbst in verschlissenen Baumwollsaris und mit billigen Nasensteckern aus Messing gelang es ihnen noch, eine gewisse Würde zu bewahren. Eine der Frauen schenkte ihm ein freundliches Lächeln, blickte jedoch unmittelbar danach zu Boden, so als schäme sie sich ihres eigenen Wagemutes.
    Crisóstomo gab den perfekten Fremdenführer. Mit stolzgeschwellter Brust stellte er Miguel einigen Leuten vor, die alle verlegen ihre Füße anstarrten, weil sie nicht wussten, wie mit dem hohen Besuch zu verfahren sei. Schließlich landeten sie vor einer Hütte, die fast noch schäbiger aussah als die anderen. »Hier wurde ich geboren«,

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