Der Infekt
richtige Mann für diesen Anlaß. Wie geht es dir sonst?«
Santos-Cruz wiegte den Kopf. »Man wird nicht jünger, Manuel. Mein Vater hat einmal gesagt: Wenn du über vierzig bist und wachst morgens auf, ohne daß dir irgend etwas weh tut, dann bist du tot.«
Roldan lachte laut auf. »Ein weiser Mann, dein Vater. Mir brauchst du das nicht zu erzählen. Wir sind eben in die Jahre gekommen.«
»Wie wahr, mein Lieber, wie wahr. Was macht die Arbeit?«
Professor Roldan zuckte die Achseln. »Im Moment ist es relativ anstrengend. Wir haben jetzt viele Neuzugänge in der Intensivstation.«
»Wie kommt's?« wollte Santos-Cruz wissen. »Verkehrsunfälle?«
»Nein. Eine Grippewelle. Die Infektion manifestiert sich allerdings in sehr heftigen Symptomen. Die Grippeviren vermehren sich im Anfangsstadium so stark, daß die Immunabwehr völlig überfordert ist. Unser Hauptproblem sind die Fieberschübe, die praktisch kaum zu stoppen sind. Es gibt bereits einige Tote zu beklagen.«
Santos-Cruz machte ein besorgtes Gesicht. Da kam auch auf sein Amt wahrscheinlich noch einiges zu. »Wie viele Kranke habt ihr denn zur Zeit?«
»So um die vierzig, aber es kommt jeden Tag der eine oder andere dazu.«
»Alle aus Montevideo?«
»Nein. Ganz im Gegenteil. Die meisten der Erkrankten kommen aus dem Südwesten des Landes, nahe der argentinischen Grenze.«
Santos-Cruz überlegte einen Moment. »Hm, ich kann mich nicht erinnern, daß mir die Argentinier eine entsprechende Grippewelle auf ihrer Seite der Grenze zur Kenntnis gebracht hätten.«
»Wieso, machen sie das normalerweise?« fragte Roldan erstaunt.
Santos-Cruz vollführte eine vage Handbewegung. »Sagen wir es so: Ich hatte mich mit meinem Kollegen in Buenos Aires darauf verständigt, ähnliche Befunde zügig zu übermitteln. Aber ich werde mich morgen mal erkundigen, ob auf der anderen Seite der Grenze ähnliche Symptome aufgetaucht sind.«
Professor Roldan nickte zustimmend. »Das ist eine gute Idee, Jorge. Wir sollten …« Seine Antwort wurde von der Klingel unterbrochen, die das Ende der Pause ankündigte.
»Es geht weiter, Manuel. Falls wir uns nachher nicht mehr sehen: Ich rufe dich an, wenn ich irgend etwas in Erfahrung bringe.«
Roldan bot ihm die rechte Hand. »Viel Freude noch heute abend!«
»Danke, Manuel, das wünsche ich dir auch.«
Nachdenklich ging Santos-Cruz zurück zu seinem Platz in der dritten Parkettreihe. Das Gespräch mit Roldan ließ das merkwürdige Telefonat, das er am Nachmittag mit einem anonymen Anrufer geführt hatte, in einem anderen Licht erscheinen. Allem Anschein nach mußte er in dieser Angelegenheit doch etwas unternehmen.
Paris, Frankreich
A m frühen Nachmittag war Angela MacRae im Hotel St. Etienne eingetroffen. Das kleine Gästehaus lag in der Nähe des Flughafens Orly und gehörte nicht unbedingt zur oberen Kategorie. Aber immerhin machte es einen durchaus gepflegten Eindruck.
Charles Kossoffs Schwester hatte sich genau an die Anweisungen gehalten, die ihr Idwood Green mit auf den Weg gegeben hatte. Dabei hatte sie sich die größte Mühe gegeben herauszufinden, ob ihr etwaige Verfolger auf den Fersen waren. Zu ihrer Beruhigung gab es keine Anzeichen dafür. Jetzt saß sie auf ihrem Bett und versuchte mit den vielen Gedanken fertig zu werden, die durch ihren Kopf rasten. Was für Leute waren das gewesen, die sie in New Haven überfallen wollten? In welche Sache war Charles da hineingeraten? Sie konnte sich keine Antwort vorstellen. Hoffentlich war Idwood Green vorsichtig. Wer weiß, was diese Menschen sonst noch unternehmen würden?
Allmählich wurde sie ein wenig hungrig. Während der Zugfahrt nach Boston und des Fluges nach Paris hatte sie vor Aufregung und Angst keinen Bissen gegessen. Aber jetzt verspürte sie eine deutliche Leere im Magen. Ob sie es wagen sollte, etwas essen zu gehen? Warum nicht? Sie hatte keinen Verfolger entdecken können, und nach ihrer Einschätzung war es auch reichlich unwahrscheinlich, daß sie jemand hier aufspüren würde.
Die junge Frau ergriff ihre kleine Umhängetasche und verließ ihr Zimmer. Nachdem sie ihren Schlüssel beim Portier abgegeben hatte, trat sie hinaus auf die Straße und ging auf gut Glück nach rechts. Schon an der übernächsten Straßenecke fand sie eine Pizzeria.
Nachdem sie mit einer Pizza und einem Salat ihren Hunger beschwichtigt hatte, wagte sie noch einen Verdauungsspaziergang um die zwei angrenzenden Häuserblocks. Dabei warf sie einen Blick über die Schulter.
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