Der Insulaner
nicht in Schwierigkeiten, wenn du nach einer Arbeit Ausschau hältst, die dich über die Wintermonate bringt. Wenn nicht, landest du im Kerker. Dann kannst du mich durch die Kapitänsbruderschaft erreichen. Unsere Räume befinden sich gegenüber dem Tempel des Meeresgottes. Wenn es möglich ist, eile ich dir zur Hilfe.«
»Ich verspreche dir, sehr vorsichtig zu sein«, sagte Hael. Er suchte seine wenigen Habseligkeiten zusammen und kletterte die Steinstufen empor, die zum Pier führten.
Jeder Matrose hatte einen kleinen Vorschuss auf seine Heuer erhalten, die am dritten Tag nach dem Anlegen ausgezahlt werden würde. Am ersten Tag wurde das Schiff entladen, am zweiten Tag wurden die Waren versteigert und der Anteil jedes Besatzungsmitgliedes ausgerechnet – und am folgenden Tag die Summe ausbezahlt.
Hael hatte mit diesen Dingen nichts zu tun, er musste nur seine Heuer abholen. Bisher war seine Vorstellung vom Wert des Geldes noch zu ungenau, um ihm irgendwelche Sorgen oder Freude zu bereiten. Er nahm seinen Speer, sein Schwert, das Nachtkatzenfell, seinen Beutel und den Wasserschlauch und war bereit, die neue Welt zu erobern. Sein Schmuck und das Geld, das er sich auf Gale verdient hatte, würden ihn für eine Weile über Wasser halten, und in der Zwischenzeit musste er nach einer ihm zusagenden Beschäftigung Ausschau halten.
Von den Docks aus begab sich Hael in die Stadt. Sein Weg führte ihn ständig bergauf. Dabei kam er an Marktplätzen vorbei, wo eine überraschende Vielfalt von Waren zum Verkauf angeboten wurde, und neugierig blieb er immer wieder stehen und betrachtete das ungewohnte Bild. Viele Blicke wandten sich ihm zu, wirkten aber nicht übermäßig neugierig. Kasin war die größte Hafenstadt der Welt, und Ausländer waren keine Seltenheit. Hael stammte von einem Inselvolk ab, das bekannt war, sich jedoch selten außerhalb der Heimat zeigte. Deshalb erregte er gewisse Aufmerksamkeit, obwohl an hochgewachsenen, gutaussehenden Barbaren wahrhaftig kein Mangel herrschte.
Der Junge entschied sich, sein Glück im Zentrum von Kasin zu versuchen, das unter dem Namen ›Allmende‹ bekannt war. Zu jener Zeit, als Kasin nichts weiter als ein kleines Küstendorf gewesen war, befand sich an dieser Stelle der gemeinschaftliche Weidegrund, wo jeder Dorfbewohner oder Besucher sein Vieh grasen lassen konnte. Als der Ort sich immer weiter ausbreitete, entstand dort zuerst ein Marktplatz, dann ein Versammlungsort und jetzt war es ein riesiger gepflasterter Platz, um den sich Läden, Tempel und öffentliche Gebäude drängten. Kein einziger Grashalm war mehr zu sehen. Die Straßen von Kasin waren schwierig zu begehen. Sie wanden sich um die Hügel herum und verliefen gemäß der Geländebeschaffenheit und nicht nach einem wohlgeordneten Stadtplan. Die Allmende wurde von der riesigen Statue des Kriegsgottes beherrscht, die von fast allen Punkten der Stadt aus gut zu sehen war. So lange Hael die Figur im Auge behielt, wusste er, dass er in die richtige Richtung lief.
Die meisten der niedrigen Gebäude bestanden aus Holz oder Ziegeln, und nur die prunkvollsten Bauten aus Steinen. Die Materialien wurden des öfteren verwendet, da Brände und Erdbeben Kasin von Zeit zu Zeit heimsuchten. Hin und wieder erblickte Hael Mauern, in die man Teile menschlicher Körper eingefügt zu haben schien, doch bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als Bruchstücke zerstörter Statuen, die nun als Baumaterial dienten.
Nachdem er eine Stunde lang durch die engen Gassen gewandert war und oftmals kehrtmachen musste, weil der Weg plötzlich vor einem Haus oder einer Mauer endete, fragte er wiederholt vorübergehende Bürger um Rat, die Schwierigkeiten hatten, seinen Dialekt zu verstehen. Endlich gelangte er auf eine breite Straße, die zur Allmende führte. Zu beiden Straßenseiten befanden sich Streifen aus Erde, in die man Blumen und schattenspendende Bäume gepflanzt hatte. Sie verliehen diesem fremdartigen Gefilde ein etwas vertrauteres Aussehen. Dauernd stieß Hael auf Springbrunnen, die meistens von Frauen mit großen Wasserkrügen umringt wurden. In den engen Gassen waren diese Brunnen nicht mehr als Tonröhren, aus denen sich das Wasser in große Becken ergoss. Auf der prunkvollen Straße standen jedoch aufwendig gestaltete Kunstwerke aus Stein und Keramik, und zahllose Fontänen schillerten im Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens und erfüllten die Luft mit ihrem kühlenden Sprühregen.
Am Ende der Straße fand sich Hael
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