Der Ire
Klingeln erschien eine Frau im Morgenrock und Lockenwicklern an der Tür. Sie hatte eine Zigarette im Mundwinkel.
»Schon wieder Sie?« fragte sie Dwyer, aber ihr ungesund blasses Gesicht trug keinen unfreundlichen Ausdruck.
»Chefinspektor Vanbrugh möchte Sie sprechen«, erklärte ihr Dwyer.
Die Frau öffnete die Tür weit. »Dann kommen Sie lieber
herein.«
In dem düsteren Hausflur stank es nach Kohl und Windeln. Ein ungewaschenes halbnacktes Kind stand in der Küchentür, starrte die Fremden mit großen Augen an und steckte seinen schmutzigen Finger in den Mund.
Die Frau ging vor ihnen her die Treppe hinauf und öffnete die erste Tür rechts. »Er hat eine Woche hier gewohnt. Am Montag zieht ein Westinder ein. Er ist bestimmt sauberer als manche Weiße, die ich kennengelernt habe«, fügte sie hinzu.
Die Einrichtung des trübseligen Raums bestand nur aus einem Bett, einem Kleiderschrank und einem Stuhl. Sie gingen wieder nach unten, und die Frau führte sie in die Küche.
»Ich habe Ihrem Mann alles erzählt, was ich weiß, Mr. Vanbrugh«, versicherte sie dem Chefinspektor. »Ich wollte, ich hätte eine Ahnung, wo der Kerl steckt. Er schuldet mir nämlich die Wochenmiete.«
»Können Sie sich wirklich an nichts erinnern?« fragte Vanbrugh. »An einen Ort, einen Namen, irgend etwas?«
Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Hat er nie Besuch gehabt?«
»Meinen Sie Damenbesuch? Nein, das gibt's bei mir garantiert nicht!«
Vanbrugh seufzte. »Jack Pope hat also während seines Aufenthalts in diesem Haus mit niemand Verbindung aufgenommen? Er hat nicht einmal einen Brief bekommen?«
»Richtig.« Als Vanbrugh bereits zur Tür gehen wollte, fügte die Frau hinzu: »Aber er hat eine Postkarte bekommen. Das muß letzte Woche gewesen sein.«
Vanbrughs Müdigkeit verflog. »Eine Postkarte? Woher?«
»Wie soll ich das wissen, Mr. Vanbrugh?«
»Eine Ansichtskarte vom Meer?« half ihr Dwyer. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das war es nicht. Aber ich weiß noch, daß ich etwas überrascht war.« Sie schlug sich an die Stirn. »Windermere ... Lake Windermere!«
Dwyer sah zu Vanbrugh hinüber. »Unsinn, Sir. Wen sollte Pope im Lake District kennen?«
Vanbrugh wandte sich an die Frau. »Sie haben uns sehr geholfen - vielleicht mehr, als Sie ahnen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Dafür können Sie mir auch einen Gefallen tun. Wenn Sie den Kerl sehen, bestellen Sie ihm, daß ich meine Miete will.«
Das Kind begann zu weinen, und als die Frau sich mit einem Fluch nach ihm umdrehte, verließen Vanbrugh und Dwyer rasch das Haus. Als sie auf die Straße traten, beugte sich der Fahrer des Streifenwagens aus dem Fenster. »Eine Nachricht für Sie, Sir. Eine dringende Meldung.«
Vanbrugh nickte Dwyer zu. »Lassen Sie sich die Nachricht durchgeben. Hoffentlich taugt sie etwas.«
Während Dwyer sich in den Wagen beugte, zündete Vanbrugh nachdenklich seine Zigarette an. Eine Ansichtskarte aus dem Lake District. Merkwürdig! Dort würde man einen Mann wie Pope oder die Leute, mit denen er verkehrte, bestimmt nicht vermuten.
Dwyer drehte sich aufgeregt um. »Das war eben Scott, Sir. Er hat Soames bis zu einer Adresse in Hendon verfolgt. Soames hat seiner Vermieterin erklärt, er müsse eine Woche geschäftlich verreisen. Das war am letzen Samstag. Sie hat ihn seitdem nicht mehr gesehen.«
»Los, wir fahren gleich hin«, entschied Vanbrugh. »Die Sache wird langsam interessant.«
Sie erreichten ein ruhiges Viertel mit hübschen Reihenhäusern hinter gepflegten Hecken und inmitten sorgfältig angelegter Gärten. Pope und Soames mochten vieles gemeinsam haben ihr Lebensstandard war jedenfalls sehr unterschiedlich.
Scott stand neben seinem Wagen am Ende einer Sackgasse. Hinter ihm erhob sich ein hübsches kleines Haus. Der Beamte war ein großer junger Mann, der sich militärisch gerade hielt.
»Was haben Sie erfahren?« wollte Vanbrugh wissen.
»Er ist letzte Woche verschwunden, Sir«, antwortete der junge Polizist. »Er hat der Hausbesitzerin erklärt, er müsse geschäftlich verreisen. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.«
Vanbrugh nickte. »Sie bleiben hier. Wir gehen hinein. Wie heißt sie?«
»Mrs. Jones, Sir. Eine leicht erregbare Witwe, Sir.«
Die Tür wurde geöffnet, als Vanbrugh und Dwyer sich ihr näherten. Folglich hatte Mrs. Jones sie hinter den Stores beobachtet.
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