Der Jade-Pavillon
der zweiten Tasse Tee kam Li endlich auf sein Anliegen zu sprechen. »Man hat mir eine Bitte überbracht«, sagte er, nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem weichen Baumwolltuch. »Der Rektor der Universität von Kunming und der Ordinarius für Innere Medizin, der ehrenwerte und berühmte Tong Shijun, haben einen Brief geschrieben. Professor Tongs Sohn Jian, ein Student der Medizin und ein begabter Mann, der Beste des Semesters, soll nach Beijing versetzt werden, der Beste zur besten Universität.«
Das war eine Lüge, denn Li war von Tong in aller Ehrlichkeit über die Vorgänge in Kunming unterrichtet worden. Doch diese wollte Li Dr. Pohland nicht mitteilen. Er hüstelte diskret, setzte seine Brille wieder auf und sah Pohland freundlich an. »Die Familie Tong gehört zu den großen, geachteten Familien des Landes«, sagte er. »Und Jian ist der einzige Sohn. Es ist natürlich Tongs Sorge, ihn sozusagen in gute Hände zu geben. Ich wüßte keinen Würdigeren, dem Tong sein volles Vertrauen schenken könnte, als Sie, Professor Pohland. Sie bewohnen ein großes Haus, haben ebenfalls einen begabten Sohn, der Medizin studiert, Ihre Frau ist auch Ärztin, und ein Zimmer kann sicherlich für Tong Jian freigemacht werden. Er wird zu Ihnen wie ein zweiter Sohn aufsehen. Was halten Sie von meinen Worten?«
Dr. Pohland überlegte schnell. Lis Bitte war eine kunstvoll verkleidete Aufforderung, daran zu denken, daß die Villa Eigentum der Volksrepublik war und seit fünfzehn Jahren ihm, Dr. Pohland, mietfrei zur Verfügung stand. Ein Nein würde zwar hingenommen werden, aber damit hätte man Tongs Ehre beschmutzt, und er selbst hätte in Lis Augen viel an Achtung verloren. Jetzt zu antworten: ›Ich werde meine Frau fragen‹ wäre noch unpassender gewesen, denn im Haus hat der Mann das Wort, und eine Frau hat zu achten, was er sagt.
»Ich werde Herrn Tong Jian bei mir willkommen heißen«, erwiderte Dr. Pohland im traditionellen Stil. Dabei verbeugte er sich leicht im Sitzen. »Wann wird Herr Tong in Beijing eintreffen?«
»Am nächsten Sonntag mit dem Mittagsflugzeug aus Kunming.«
Das waren nur noch dreieinhalb Tage. Dr. Pohland wunderte sich über diese den Chinesen sonst fremde Eile, aber er stellte keine weiteren Fragen mehr. Li erhob sich aus seinem Sessel, ging zu einem Lackschrank mit wundervoller Blütenmalerei und holte eine Flasche Maotai-Schnaps, den besten Schnaps Chinas, und zwei Gläser heraus. Er goß ihn in die Gläser, stieß mit Pohland an und nippte dann an dem Schnaps, denn einen Maotai schüttet man nicht wie einen gewöhnlichen Schnaps hinunter. »Sie werden Ihre Freude an Tong Jian haben«, sagte er. »Er will sich einmal auf Chirurgie spezialisieren, das ist der einzige Kummer, den er seinem Vater macht. Tong Shijun sähe ihn lieber als Internisten.« Er stand auf, und auch Dr. Pohland erhob sich aus dem schweren Sessel. »Ich gebe Ihnen noch telefonisch durch, wie Sie Jian erkennen. Sie holen ihn doch sicherlich am Flughafen ab.«
»Das ist selbstverständlich.«
»Ich bin glücklich, in Ihnen seit Jahren einen Freund zu sehen.« Li gab Pohland die Hand. »Nicht im Körper, sondern in der Seele liegt der Charakter des Menschen.«
Erika Pohland sah ihren Mann entgeistert an, als er am Abend bei Tisch wie beiläufig sagte: »Wir werden ab Sonntag einen Gast haben.«
»Das ist nichts Neues. Von welcher Botschaft?«
»Er wird bei uns wohnen.«
»Wohnen?«
»Besuch aus dem Ausland?« fragte Holger. Neben ihm saß Charly Reindl und war froh, nicht mit Stäbchen essen zu müssen.
»Aus Kunming. Ein Student der Medizin. Er heißt Tong Jian. Sein Vater ist Ordinarius für Innere Medizin.«
»Ein hochgeborenes Söhnchen also«, ließ sich Reindl hören.
»Und wie lange bleibt er?« fragte Erika.
»Auf unbestimmte Zeit. Wir richten ihm das zweite Gartenzimmer ein.«
»Das ist doch nicht dein Ernst?« rief Erika empört. »Du kannst doch nicht einfach – «
»Der Rektor hat mich darum gebeten.« Dr. Pohland wischte alle Einwände mit einer Handbewegung fort. »Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit Freuden zuzustimmen.«
»Niemand kann Sie zwingen«, sagte Reindl aggressiv. »Auch im chinesischen Kommunismus gibt es Rechte.«
»Ich hätte an Achtung verloren. Schließlich wohnen wir seit fünfzehn Jahren in einer Staatsvilla. Aber urteilen wir doch nicht, bevor wir Herrn Tong gesehen haben! Er gehört zu den ersten Familien Chinas.«
Holger legte seine Stäbchen zur Seite und
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